Wie Architektur zum geistigen und körperlichen Wohlbefinden positiv beitragen und den Heilungsprozess beschleunigen kann – die sieben Prinzipien und Best-Practice-Beispiele auf einen Blick.
Alle, die sich schon einmal von einer Operation oder einer schweren Erkrankung erholen mussten, wissen wohl aus eigener Erfahrung: Die Umgebung, in der man gesundet, beeinflusst den Heilungsprozess. Ob ich mich in den Räumlichkeiten generell wohlfühle, Ruhe finde oder mich – vor allem wenn ich durch Krankheit in meinen üblichen Möglichkeiten eingeschränkt bin – frei bewegen kann, sind wichtige Faktoren auf dem Weg zur Gesundheit. Damit, was die Umgebung und die Einrichtung eines Raumes für unsere Genesung leisten können, beschäftigt sich die Healing Architecture.
Architektur neu gedacht
Seit den 1970er-Jahren gibt es ein Umdenken in der Gesundheitsarchitektur, das der Umweltpsychologie wortwörtlich mehr Raum gibt. Untermauert wird die Bedeutung der heilenden Architektur durch zahlreiche Studien zur Wirkung der Umgebung auf das physische und psychische Wohlbefinden. Es stehen aber auch Fragen der Sicherheit, Hygiene, Arbeitseffizienz und Kommunikation auf dem Plan, die sowohl Patientinnen und Patienten, als auch Angehörige und das medizinische Personal maßgeblich betreffen.
Evidenzbasiertes Design
Die heilende Architektur fußt auf wissenschaftlichen Grundlagen und die müssen bei diesem neuen Zweig erst einmal geschaffen werden. Ein Institut, das sich ganz der Forschung und Arbeit zur Healing Architecture widmet, ist das Hochbau-Fachgebiet Architecture for Health/Future an der Technischen Universität in Berlin. Die Wirksamkeit der Architektur im Heilungsprozess soll nachgewiesen werden und dazu führen immer mehr Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen, die die Prinzipien der Healing Architecture anwenden, mittlerweile Studien durch. In der privaten Klinik der Circle Health Group in Bath konnte z. B. festgestellt werden, dass die Patientinnen und Patienten aufgrund der neu geschaffenen Umgebung wesentlich entspannter sind und die Herzfrequenz niedriger ist. So können öfter Lokalanästhesien durchgeführt werden, die eine schnellere Mobilisation möglich machen. Zudem bluten die Patientinnen und Patienten während Operationen weniger und sprechen generell schneller und besser auf Behandlungsmethoden an.
Die sieben Prinzipien der Healing Architecture
- Wissenschaft & Design
Die Designentscheidungen basieren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen zum physischen und psychischen Wohlbefinden und richten sich an der Genesung der Patientinnen und Patienten aus. - Komfort & Kontrolle
Wir alle fühlen uns gerne geborgen und möchten über die Aspekte, die dafür notwendig sind, die Kontrolle haben – z. B. wenn wir Licht, Wärme und Geräuschkulisse beeinflussen und bequem per Fernbedienung vom Bett aus steuern können. - Licht & Aussicht
Natürliches Licht beschleunigt die Selbstheilungsprozesse in unserem Körper und die Aussicht auf eine schöne Umgebung – im besten Fall begrünt – beruhigt und lässt uns oftmals im metaphorischen Sinne auch die Ausblicke auf unsere Gesundung positiver sehen. - Natur & Interieur
Helle, freundliche Farben und gemütliche Materialien, die Sauberkeit vermitteln, sind die Basis. Gemälde und Skulpturen lockern den Raum auf und bieten willkommene Blickpunkte. Zudem sollte der Raum aufgrund der therapeutischen Wirkung begrünt bzw. auch architektonisch mit Natursymbolen und -elementen gearbeitet werden. - Flexibilität & Privatsphäre
Die Räumlichkeiten sollten flexibel gestaltbar sein, so dass Gemeinschaft, aber auch Privatsphäre erzeugt werden können, entsprechend den wechselnden Bedürfnissen der Menschen, die sich im Heilungsprozess befinden. - Trennung & Logistik
Die Bereiche, die rein von Patientinnen und Patienten genutzt werden und jene, in denen das medizinische Personal und Zulieferer arbeiten und Material lagern, sollten voneinander getrennt sein. - Orientierung & Sicherheit
Der Raumplan sollte so angelegt sein, dass sich Patientinnen und Patienten intuitiv zurechtfinden, damit zusätzliche Stressfaktoren vermieden werden können und z. B. für demente Personen zusätzliche Sicherheit geschaffen wird.
Best Practice für Healing Architecture
Wir stellen dir fünf Best-Practice-Beispiele für Healing Architecture vor, die inspirieren.
Fachkrankenhaus für die Seele | Sehnde/Köthenwald, Deutschland
Auf 15.000 m2 hat das Team von tsj Architekten eines der größten und modernsten psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachkrankenhäuser in Deutschland geschaffen. Der fünfteilige Gebäudekomplex beherbergt elf Behandlungsstationen, 30 tagesklinische Plätze und 350 vollstationäre Betten. Die Gestaltung des Gebäudekomplexes der vier Gebäude, um einen Gemeinschaftsraum angeordnet, erinnert an ein Dorf mit Marktplatz und trägt so der Kombination von Rückzug und Begegnung Rechnung. Viel Tageslicht, die gekonnte Verbindung der Außen- und Innenräume, Ausblicke ins Grüne und eine freundliche, hygienische und sichere Raumgestaltung runden die heilsame Atmosphäre ab.
tsj-architekten.de | klinikum.wahrendorff.de
Maggie’s | Southampton, Großbritannien
Maggie’s Zentren sind Räumlichkeiten, in denen sich Krebskranke mit anderen, die einen ähnlichen Leidensweg haben, austauschen und zur Ruhe kommen können. Trotz einer Ausgangssituation mit viel Beton und nichts als Parkplätzen rings um, hat es das Team von Amanda Levete Architects geschafft, mit einem Grundriss, der an ein Windrad erinnert und intuitiv gesetzten Pflanzen ein Gebäude und einen Garten zu gestalten, die so wirken, als wären sie schon immer hier gewesen. Natürliche Materialien, private Räumlichkeiten, die sich rund um einen Gemeinschaftsbereich anordnen und sanfte Pastelltöne, die Ruhe vermitteln, machen das Center zu einem Ort der Erholung und Einkehr in gesundheitlich schwierigen Zeiten.
Euregio Klinik Kinder- und Jugendpsychiatrie | Nordhorn, Deutschland
Wie ein Spaziergang durch die heimische Natur soll sich der Aufenthalt hier anfühlen. Die Gestaltung der Therapie- und Aufenthaltsräume soll so sprichwörtlich Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen entlang des Therapieweges begleiten und durch Healing Architecture die Genesung fördern. Das Design, das vom Innen:Architekturbüro bkp stammt und 2021 mit dem German Design Award ausgezeichnet wurde, arbeitet mit klaren Farben, natürlichen Materialien, der Qualität des Lichts und der Akustik des Raumes. Die Zimmer für Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren und jene für Jugendliche zwischen 13 und 17 Jahren sind altersgerecht unterschiedlich gestaltet. Die Farbgebung und das Spiel mit Formen der Natur sorgen für Ruhe und eine entspannte Atmosphäre.
Klinik Favoriten (ehemals Kaiser-Franz-Josef-Spital) | Wien, Österreich
Echte Expertise in Sachen Healing Architecture besitzen Hans Nickl und Christine Nickl-Weller, die mit ihrem Architekturbüro Nickl & Partner bereits zahlreiche renommierte Bauprojekte nach den Prinzipien gesundheitsfördernder Architektur umgesetzt haben. Einen wahren Preisregen gab es für die Gestaltung des neuen Mutter-Kind und OP-Zentrums des Kaiser-Franz-Josef-Spitals, das mittlerweile in Klinik Favoriten umbenannt wurde. Durch unzählige An- und Umbauten war das Krankenhaus im Laufe der Jahre sehr unstrukturiert geworden. Das neue Gebäude ist über Dachgärten mit der auch für den Stadtteil nutzbaren Parklandschaft rundum verbunden und der flexible Grundriss macht es künftig möglich, das Gebäude zu verändern und zu erweitern, ohne bestehende Grundstrukturen zu zerstören.
nickl-partner.com | klinik-favoriten.gesundheitsverbund.at
Intensivräume Charité Berlin | Berlin, Deutschland
Behandlungsräume auf Intensivstationen verbinden die meisten von uns mit extremen Bedingungen, Sterilität, einem Gefühl von Verwundbarkeit und Hilflosigkeit und dem dauerhaften Piepsen von Kontrollmonitoren. In ihrem fünfjährigen Forschungsprogramm „Parametric Dream Room” konnte das Architektur- und Designstudio GRAFT das enorme Potenzial einer Kollaboration von medizinischem Fachpersonal, Designschaffenden und der Gesundheitsbranche darlegen. Aus den Erkenntnissen entstanden zwei neue Intensivräume in der Charité, bei denen die medizinischen Geräte geräuschreduziert im modularen Wandsystem hinter den Patientinnen und Patienten angebracht sind. Menschen auf Intensivstationen leiden oft unter Schlafmangel, Angstzuständen und Delirphasen sowie mitunter vorübergehenden Psychosen. Zusammen mit Art + Com und Philips wurde eine Lichtinstallation über den Intensivbetten entworfen, die beruhigend, aber auch stimulierend wirkt.
Healing Architecture für deine Praxis
Wie man an den Best-Practice-Beispielen sehen kann, wird Healing Architecture meist beim Neubau von Krankenhäusern angewandt, die Prinzipien lassen sich aber natürlich auch auf die Gestaltung einer Therapiepraxis übertragen.
Freundliche Farben, natürliche Materialien wie Holz, Pflanzen, eine Raumaufteilung, die Offenheit, aber auch Rückzug ermöglicht und Sanitärräume, die barrierefrei zugänglich sind und hygienische Sicherheit gewährleisten, wie z. B. mit den eigens dafür entwickelten Sanitär-Serien von HEWI, sind beispielsweise eine gute Grundlage.
Header © Maggie’s Southampton | Hufton + Crow