Die Spuren der Pandemie sind in unserer Gesellschaft auch drei Jahre nach den letzten Lockdowns noch immer deutlich spürbar – besonders in unseren Seelen. Wir sehen uns an welche Auswirkungen die Kontaktbeschränkungen, aber auch COVID-19-Erkrankungen selbst auf die Psyche hatten und haben.
Seit den letzten Lockdowns 2021 ist das gesellschaftliche Leben in Deutschland und Österreich sukzessive zum Normalzustand zurückgekehrt. Doch die Pandemie und die damit einhergehenden Maßnahmen haben Narben hinterlassen. Bei vielen Menschen vor allem gesundheitlich. Neben physischen Langzeitfolgen wie Long Covid, sind es vor allem die psychischen Erkrankungen, die sich nun, wo die Ruhe nach dem Sturm einkehrt, mehr und mehr zeigen.
Der Beginn der Pandemie
Studien und Erhebungen zur mentalen Gesundheit starteten parallel mit den ersten Lockdowns 2020. Laut einer Studie des Gesundheitspsychologen Brett Thombs und seines Teams an der MCGill University, die 137 Studien für eine Metaanalyse auswählten, um die psychische Gesundheit in der Zeit vor und nach den ersten Lockdowns zu vergleichen, zeigte sich zunächst kein signifikanter Anstieg im Bereich psychischer Erkrankungen. Die einzigen Ausreißer zu Beginn waren Menschen über 65 Jahre und Frauen im Allgemeinen, die vermehrt unter Depressionen und Angststörungen litten. Die Vermutung der Forscherinnen und Forscher, bzgl. der Gründe bei älteren Leuten, war ein steigendes Gefühl der Einsamkeit und bei Frauen der zunehmende Stress aufgrund des Anstiegs der Mehrbelastung.
Anstieg der Suizidalität
Bei den Suiziden und Suizidversuchen gingen die Zahlen laut Statistiken aus 21 Ländern zunächst leicht zurück, um dann anzusteigen. Das führen die Forschenden darauf zurück, dass Menschen in Krisen zunächst dazu tendieren, ihre Probleme auf die allgemeine Situation zurückzuführen und erst mit etwas Verzögerung auf innere Vorgänge. Das bestätigt auch eine Studie, die in der Fachzeitschrift „The Lancet Psychiatry“ veröffentlicht wurde und die Daten zu Millionen von Kindern bis 18 Jahren in 18 Ländern untersucht hat, die bis Ende 2022 Hilfe in psychologischen Notfallabteilungen gesucht haben. Demnach stieg die Zahl der nach einem Suizidversuch Behandelten um 22 Prozent im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie.
Kinder und Jugendliche in der Krise
Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind die Bevölkerungsgruppen, die sowohl während der Pandemie als auch jetzt in den Jahren nach den Lockdowns am stärksten von psychischen Erkrankungen betroffen sind. Dabei zeigt sich, wie so oft, dass unsere Psyche erst so richtig mit der Verarbeitung des Erlebten beginnt, wenn Ruhe und Normalität einkehren. Durch die Schulschließungen und Lockdowns haben viele Kinder und Jugendliche wichtige Entwicklungsschritte, z. B. im Spracherwerb, aber auch was das Sozialverhalten anbelangt, verpasst oder nur in sehr reduziertem Maß erfahren dürfen. Laut Erhebungen in Deutschland stieg die Nachfrage nach Behandlungen bei Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen und -therapeuten bereits ein Jahr nach Beginn der Pandemie um 60 Prozent. Auch die Krankenkassendaten der DAK zeichnen ein klares Bild: Die Zahl neu diagnostizierter Essstörungen stieg während der Pandemie um 51 Prozent. Ebenso nahmen Angststörungen und Depressionen bei Kindern und Jugendlichen exponentiell zu.
Die soziale Komponente
Die COPSY-Studie der Forschungsabteilung „Child Public Health“ des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf ist eine bundesweit durchgeführte Studie, die die Nachwirkungen der Corona-Krise auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen untersucht. Sie zeigt im Zuge dessen auf, dass psychische Belastungen wie Angst- oder Essstörungen geringer sind als in den ersten und zweiten Lockdown-Phasen, jedoch nach wie vor höher als vor der Pandemie. Zudem ist klar zu sehen, dass Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Verhältnissen überdurchschnittlich stärker betroffen sind.
Offener Dialog und heilende Initiativen
Dass viel Aufarbeitung jetzt in der Zeit nach Corona passiert, sehen auch Barbara Haid, Präsidentin des Bundesverbandes der PsychotherapeutInnen in Österreich, und ihre Kolleginnen und Kollegen. Auf die Frage, ob die Pandemie-Jahre zu einer gesteigerten Nachfrage bei psychotherapeutischen Behandlungen – generell und im Speziellen bei Jugendlichen geführt haben – sagt Haid: „Bereits im ersten Pandemie-Jahr gab es einen Anstieg von 25 Prozent, aber die große Welle kommt in solchen Fällen immer erst zeitverzögert. Es gibt das schöne indianische Sprichwort: ‚Wir müssen von Zeit zu Zeit eine Rast einlegen und warten, bis uns unsere Seelen wieder eingeholt haben.‘ Unsere Seelen sind nach dieser Zeit oft noch ganz woanders, und das spüren viele Menschen aktuell. Wir sehen also zum einen, dass mehr Leute als früher Hilfe benötigen – das Schöne dabei ist aber, dass sie diese immer früher suchen. Die Pandemie hat dabei geholfen, sowohl für Jugendliche als auch Erwachsene Tabus rund um das Thema mentale Gesundheit aufzubrechen, eben weil es sehr viele Menschen unmittelbar betroffen hat.“ Mit Projekten wie fit4SCHOOL und dem bereits als Vorzeigeprojekt geltenden „Gesund aus der Krise“ versuchen Therapeutinnen und Therapeuten aus den Bereichen Klinische Psychologie, Gesundheitspsychologie, Psychotherapie und Musiktherapie niederschwellig Hilfe anzubieten, die zum Glück stark angenommen wird und zu messbar sehr guten Ergebnissen führt.
Das gesamte Interview mit Barbara Haid zu aktuellen Projekten und dem neuen Psychotherapiegesetz liest du hier!
Corona in allen Lebensbereichen
Einen umfangreichen Bericht darüber, wie sich die Pandemie und die damit einhergehenden Maßnahmen auf alle Lebensbereiche ausgewirkt haben und welche Folgen das auf unsere Psyche hatte, bietet „Corona und die Psyche des Menschen – Psychologische Perspektiven auf die Folgen der COVID-19-Pandemie“, erschienen in der Schriftenreihe der Hamburger Fern-Hochschule. Hier wird in wissenschaftlichen Essays auf unterschiedliche Lebenssituationen eingegangen, beispielsweise auf die Belastungsfaktoren für Familien während der Pandemie, die Entwicklung häuslicher Gewalt oder die soziale Isolation von Seniorinnen und Senioren in Pflegeheimen während der Zeit der Kontaktbeschränkungen. Aber auch die Introversion und positive Emotionen in Bezug auf die Restriktionen sind in diesem umfangreichen, rund 400 Seiten umfassenden Werk Thema. Im Essay von Violetta Braimovic zur Situation der Seniorinnen und Senioren wird beispielsweise klar, dass sich laut einer Statistik im Erhebungszeitraum 2021 37 Prozent der über 65-Jährigen in Bezug auf die pandemische Situation stark bis sehr stark belastet fühlen. Im Vergleich zum Erhebungszeitraum 2020 waren das also schon während der Pandemie 16 Prozent mehr.
COVID-19 und seine Wirkung auf die Psyche
Zu den Auswirkungen, die die Lockdowns auf die Psyche der Menschen hatten, kommen neue Erkenntnisse über die Langzeitwirkungen auf die mentale Gesundheit nach einer überstandenen starken COVID-Erkrankung. Eine britische Studie mit mehr als 18 Millionen Erwachsenen, ergab eine erhöhte Rate an Depressionen und schweren psychischen Erkrankungen bis zu einem Jahr nach einer COVID-19-Infektion, insbesondere bei nicht geimpften Personen, die eine schwere COVID-19-Erkrankung überstanden haben. Eine Studie analysierte rund um diese Thematik Einträge aus der Gesundheitsdatenbank des U.S. Department of Veterans Affairs und veröffentlichte die Ergebnisse im Fachmagazin „BMJ“. Laut der Studie hatten Infizierte ein Jahr nach einer Corona-Infektion eine 60 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, als nicht infizierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Diagnose einer psychischen Erkrankung zu bekommen. Am häufigsten litten die Betroffenen unter Schlafstörungen, Depressionen, neurokognitiven Störungen und Substanzabhängigkeiten.
Angebot und Nachfrage
Die Entwicklungen im Zuge der Zeit nach Lockdowns, Kontaktbeschränkungen und schweren COVID-19-Verläufen zeigen einmal mehr zwei Punkte: wie sehr unsere physische und psychische Gesundheit miteinander verbunden sind und sich beeinflussen und dass der Nachfrage nach psychologischer und psychotherapeutischer Hilfe viel zu wenige Therapieplätze gegenüberstehen. Gerade was Angebote für Menschen mit wenig finanziellen Mitteln anbelangt, könnten Projekte wie das bereits erwähnte „Gesund aus der Krise“ eine Vorzeigefunktion einnehmen, wenn es um einen möglichst niederschwelligen und gut organisierten Zugang zu Therapie für alle geht.
Buchtipps
Wenn du dich noch mehr mit dem Thema auseinandersetzen möchtest, haben wir hier noch zwei Lesetipps aus dem Klett-Cotta Verlag.
Titel: Corona in der Seele
AutorInnen: Udo Baer | Claus Koch
Verlag DE: Klett-Cotta Verlag
Titel: Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise
AutorInnen: Robert Bering (Hg.) | Christiane Eichenberg (Hg.)
Verlag DE: Klett-Cotta Verlag
Header © Freepik