Psychische Gesundheit beginnt im Darm: Univ.-FÄ PD DDr.in Sabrina Leal Garcia erklärt die Darm-Hirn-Achse und wie Ernährung und Mikrobiom unser Denken, Fühlen und Verhalten beeinflussen.
Was haben Ernährung, Darmbakterien und unsere Psyche gemeinsam? Sehr viel – wie Univ.-FÄ PD DDr.in Sabrina Leal Garcia eindrucksvoll zeigt. Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, Ernährungs- und Nährstoffmedizinerin sowie 1. Stellvertretende Leiterin der Spezialambulanz für „Nutritional Psychosomatics“ an der Medizinischen Universität Graz. Als Pionierin auf dem Gebiet der Darm-Hirn-Achse verbindet sie neueste wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischer therapeutischer Erfahrung.
Im Interview spricht sie über die Rolle des Mikrobioms für unsere psychische Gesundheit, die Chancen einer ganzheitlichen psychiatrischen Behandlung, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und wie wir unserem Mikrobiom im Alltag achtsam Gutes tun können.
Wie sind Sie ursprünglich auf das Thema Darm-Gehirn-Achse aufmerksam geworden, und was hat Sie daran besonders fasziniert?
Ich bin über meine Doktorarbeit zum ersten Mal systematisch mit der Darm-Gehirn-Achse in Berührung gekommen – zu einer Zeit, in der dieses Thema wissenschaftlich noch kaum erforscht war. Was mich von Anfang an fasziniert hat, war die Möglichkeit, psychische Erkrankungen nicht isoliert als Störungen des Gehirns zu betrachten, sondern sie im Kontext des gesamten Organismus zu verstehen. Es war wie ein Blick durch ein neues Fenster – auf das Zusammenspiel von Nervensystem, Immunsystem, Darmmikrobiom und Psyche. Die Vorstellung, dass mentale Gesundheit auch mit physiologischen und ökologischen Prozessen im Körper verwoben ist, hat für mich eine neue Form von Ganzheitlichkeit und Tiefe eröffnet, die bis heute mein Denken und Forschen prägt.
Was versteht man genau unter der Darm-Hirn-Achse, und warum spielt sie in der Psychiatrie und Psychotherapie eine immer wichtigere Rolle?
Die Darm-Hirn-Achse beschreibt die wechselseitige Kommunikation zwischen dem zentralen Nervensystem und dem enterischen Nervensystem, also dem Nervensystem des Darms. Diese Verbindung wird über neuronale, immunologische, hormonelle und mikrobielle Signale sichergestellt – das heißt, nicht nur Nervenimpulse, sondern auch Botenstoffe wie Zytokine, Hormone und Metabolite des Mikrobioms spielen eine Rolle.
In der Psychiatrie und Psychosomatik gewinnt dieses Konzept zunehmend an Bedeutung, weil es eine neue Perspektive auf die Entstehung und Behandlung psychischer Erkrankungen eröffnet. Viele Studien zeigen, dass Veränderungen im Mikrobiom – also in der bakteriellen Besiedelung des Darms – mit Symptomen wie Angst, Depression oder Stressintoleranz in Verbindung stehen. Das bedeutet: Wir können psychisches Leiden nicht mehr nur im Kopf verorten, sondern müssen auch systemische Prozesse im Körper mitdenken. Dieser Paradigmenwechsel bringt nicht nur neue Forschungsansätze, sondern eröffnet auch integrative Behandlungsoptionen – von Ernährungstherapie über Mikrobiom-Modulation bis hin zur präventiven Gesundheitsförderung.

Wie beeinflusst unsere Ernährung konkret unsere mentale Gesundheit? Gibt es bestimmte Nährstoffe oder Nahrungsmittel, die Sie besonders hervorheben würden – sowohl im Negativen als auch im Positiven?
Unsere Ernährung wirkt sich tiefgreifend auf mentale Prozesse aus – über die Darm-Hirn-Achse, über das Mikrobiom, über Entzündungsprozesse, Blutzuckerschwankungen und die Versorgung mit neurorelevanten Mikronährstoffen. Dabei zeigt sich in der Forschung immer deutlicher: Es ist nicht ein einzelnes „Superfood“ oder ein spezifischer Nährstoff, der den Unterschied macht, sondern der gesamte Ernährungsstil.
Muster, die sich positiv auswirken, zeichnen sich durch Vielfalt, einen hohen Anteil an pflanzlichen Lebensmitteln, wenig industriell verarbeitete Produkte und ein stabiles Mikrobiom aus. Negativ wirken sich dagegen stark verarbeitete, zucker- und fettreiche Ernährungsformen aus – sie fördern stille Entzündungen, können das Mikrobiom aus dem Gleichgewicht bringen und sind häufig mit einer schlechteren psychischen Verfassung assoziiert.
Es geht also nicht um irgendwelche Diäten oder dogmatische Regeln, sondern um eine nachhaltige, balancierte und möglichst wenig verarbeitete, dem Menschen gerechte Ernährung, die unser biologisches System stabilisiert und die psychische Resilienz stärkt.
Welche Rolle spielt das Mikrobiom im Darm für unsere Stimmung, unsere Emotionen und kognitive Funktionen?
Zum einen produziert das Mikrobiom eine Vielzahl bioaktiver Substanzen, darunter Neurotransmitter-Vorstufen wie Tryptophan (für Serotonin), kurzkettige Fettsäuren wie Butyrat (entzündungsmodulierend) oder sogar direkt GABA und Dopamin-ähnliche Verbindungen. Zum anderen beeinflusst es über immunologische Prozesse die Freisetzung entzündungsfördernder oder -hemmender Botenstoffe – und diese stehen wiederum in engem Zusammenhang mit depressiven und kognitiven Symptomen.
Ein gesundes, vielfältiges Mikrobiom unterstützt also emotionale Stabilität, Stressregulation und Denkprozesse – während eine gestörte Mikrobiom-Zusammensetzung, wie sie z. B. bei chronischem Stress, Fehlernährung oder Antibiotika-Einsatz auftritt, mit einem erhöhten Risiko für Angst, Depression und kognitive Einbußen assoziiert ist.
Gibt es wissenschaftlich belegte Zusammenhänge zwischen bestimmten psychischen Erkrankungen (z. B. Depression, Angststörungen) und einem gestörten Darmmilieu?
Ja, zahlreiche Studien zeigen, dass das Darmmikrobiom bei psychischen Erkrankungen verändert ist. Besonders hervorzuheben ist die Metaanalyse von Nikolova et al. (2021), die 59 Studien auswertete und konsistente mikrobiologische Veränderungen bei Depression, Angststörungen, bipolarer Störung und Schizophrenie fand.
Typisch sind eine verminderte Vielfalt des Mikrobioms sowie ein Rückgang entzündungshemmender Bakterien wie Faecalibacterium und eine Zunahme proinflammatorischer Arten wie Eggerthella. Diese Muster deuten auf eine sogenannte Dysbiose hin, die über Entzündungen, neuroaktive Metabolite und die Darm-Hirn-Achse zur psychischen Symptomatik beitragen kann.
Können psychische Beschwerden auch ausschließlich durch eine gestörte Darmflora ausgelöst werden oder ist dies immer nur ein einzelner Faktor?
Eine gestörte Darmflora – also eine Dysbiose – kann psychische Beschwerden mitverursachen, doch sie ist in der Regel nicht der alleinige Auslöser. Psychische Erkrankungen entstehen multifaktoriell: Genetische Dispositionen, frühkindliche Prägungen, psychosoziale Belastungen, Lebensstilfaktoren, aber auch körperliche und immunologische Prozesse greifen ineinander.
Im Rahmen des Vulnerabilitäts-Stress-Modells verstehen wir das Darmmikrobiom als einen Teil des „inneren Milieus“, das bei entsprechender Anfälligkeit die Wirkung von äußeren Stressoren verstärken oder abschwächen kann. Erst wenn mehrere dieser Faktoren gleichzeitig zusammenkommen – etwa eine genetische Empfänglichkeit, ein ungünstiges Mikrobiom und ein auslösender Stressor – kann eine psychische Erkrankung manifest werden.
Das Mikrobiom ist somit ein bedeutsamer, aber nie isolierter Einflussfaktor – ein „Modulator“, der in einem komplexen Netzwerk biologischer und psychosozialer Wechselwirkungen wirkt.

Inwiefern hat sich das medizinische Verständnis für die Ernährung in der Psychotherapie und Psychiatrie in den letzten Jahren gewandelt?
In den letzten Jahren hat sich das Verständnis dafür, wie sehr Ernährung die psychische Gesundheit beeinflusst, deutlich erweitert – insbesondere in der jüngeren Generation von Psychotherapeutinnen und -therapeuten sowie Ärztinnen und Ärzten wächst das Interesse spürbar.
Unsere eigene Studie Mörkl, Stell et al. 2021 mit über 1.000 Fachpersonen aus Psychiatrie und Psychologie zeigte: Nur 0,8 Prozent der Befragten schätzten ihr Wissen zum Zusammenhang von Ernährung und Psyche als „sehr gut“ ein – gleichzeitig äußerten aber über 90 Prozent ein klares Interesse an Fortbildungen zu diesem Thema.
Das ist ermutigend: Es zeigt, dass ein Bewusstseinswandel im Gange ist und viele Fachpersonen bereit sind, Ernährung als integralen Bestandteil ganzheitlicher psychischer Gesundheitsversorgung zu denken und zu lernen.
Welche Herausforderungen gibt es bei der Vermittlung dieses Wissens an Kolleginnen und Kollegen oder Patientinnen und Patienten?
Die größte Herausforderung liegt darin, dass Ernährung und Psyche im medizinischen und psychologischen Grundstudium bislang kaum verankert waren – viele Kolleginnen und Kollegen starten also nahezu bei Null. Auch an Patientinnen und Patienten lässt sich dieses Wissen nur dann sinnvoll weitergeben, wenn es zuvor professionell vermittelt und verstanden wurde.
An der MedUni Graz wird aktuell daran gearbeitet, Ernährung systematisch in das Curriculum zu integrieren – das ist ein wichtiger Schritt. Gleichzeitig fehlen bislang standardisierte Lehrmaterialien oder etablierte Lehrbücher zu „Nutritional Psychiatry“. Unsere Forschungsgruppe hat deshalb begonnen, Kapitel zu diesem Thema in Fachbüchern zu veröffentlichen und ein eigenes Lehrbuch zu „Ernährung und Psyche“ ist derzeit in Vorbereitung.
Es ist ein junges Feld – aber das Interesse wächst, und mit jedem Baustein an Wissen entsteht mehr Bewusstsein und mehr fachliche Sicherheit. Das macht Hoffnung.
Wie reagieren Ihre Patientinnen und Patienten darauf, wenn Ernährung und Darmgesundheit Teil der psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlung werden?
Die Reaktionen in unserer Spezialambulanz für Ernährung und Psyche sind durchwegs positiv. Viele Patientinnen und Patienten wünschen sich genau diese Form einer ganzheitlichen Behandlung – und sind sogar bereit, dafür längere Wartezeiten in Kauf zu nehmen. Das zeigt uns, wie groß das Bedürfnis nach integrativer, verständnisvoller und lebensstilorientierter Behandlung ist.
Wir hoffen sehr, dass weitere Ambulanzen diesem Weg folgen und Behandlungsangebote entwickeln, die Ernährung und die Darm-Gehirn-Achse im Sinne des biopsychosozialen Modells einbeziehen. Die künstliche Trennung zwischen Körper und Psyche muss endlich aufgehoben werden. Und vor allem: Ernährung darf in Zukunft nicht länger als „alternative“ Ergänzung betrachtet werden – sondern als essentieller Bestandteil moderner, evidenzbasierter psychischer Gesundheitsversorgung.
Wie sieht ein ganzheitlicher Therapieansatz in der Spezialambulanz für Psychosomatik, Ernährung und Psyche aus, in der Sie tätig sind?
In unserer Spezialambulanz verfolgen wir einen integrativen, biopsychosozialen Behandlungsansatz. Zu Beginn erhalten Patientinnen und Patienten einen ausführlichen Gesundheitsfragebogen, gefolgt von einer ganzheitlichen Anamnese, einer körperlichen Untersuchung, laborchemischen Analysen inklusive Nährstoffanalysen, Darmbarriere- und Entzündungsmarkern sowie einer psychotherapeutischen Begleitung.
Wir schöpfen aus dem gesamten Spektrum der uns zur Verfügung stehenden medizinischen Zugänge und arbeiten evidenzbasiert entlang aller drei Säulen der evidenzbasierten Medizin: Wir fühlen uns der aktuellen wissenschaftlichen Forschung, der klinischen Erfahrung und den individuellen Lebensrealitäten unserer Patientinnen und Patienten gleichermaßen verpflichtet.
Unser Ansatz vereint klassisch psychopharmakologische, ernährungsmedizinische, psychotherapeutische und funktionell-biologische Perspektiven. Im Zentrum steht dabei immer die therapeutische Beziehung: Wir begleiten unsere Patientinnen und Patienten auf ihrem Weg und orientieren uns am Prinzip der Salutogenese: Die Behandlung soll verstehbar, handhabbar und sinnhaft sein. Wir lernen täglich dazu – mit, für und von unseren Patientinnen und Patienten. Und genau darin liegt für uns die Essenz einer zeitgemäßen, menschenzentrierten Medizin.

Welche Rolle spielen Ernährungsberatung und Nahrungsergänzungsmittel in Ihrer Arbeit?
Ernährungstherapie bildet in unserer Arbeit die Basis – sie ist ein zentraler therapeutischer Pfeiler. Eine individuell angepasste Ernährungsberatung hilft dabei, nicht nur Defizite auszugleichen, sondern auch schädigende Einflüsse – wie hochverarbeitete Lebensmittel oder entzündungsfördernde Ernährungsweisen – zu erkennen und schrittweise zu reduzieren.
Nahrungsergänzungsmittel setzen wir gezielt ein, um das aufzufüllen, was fehlt – sei es aufgrund diagnostisch gesicherter Mängel, erhöhter Belastung oder therapeutischer Notwendigkeit. Ziel ist immer, den Organismus zu stabilisieren, Selbstregulation zu ermöglichen und den Genesungsprozess zu unterstützen. Je besser es uns gelingt, die Gesundheit zu fördern, desto weniger müssen wir Krankheitssymptome behandeln.
Welche Entwicklungen oder Forschungsergebnisse im Bereich der Nutritional Psychiatry finden Sie derzeit besonders spannend?
Es tut sich viel im Fachbereich! Rezent ist eine Studie unserer Arbeitsgruppe erschienen, in der wir zeigen konnten, dass die Anwendung eines Probiotikums bei Patientinnen und Patienten mit Depression die Vagusnerv-Aktivität (gemessen über die Herzfrequenzvariabilität) signifikant verbessern kann – begleitet von einer positiven Veränderung der Darmflora und besserer Schlafqualität. Auch spannend finde ich die Fallserien zur ketogenen Ernährung in der Psychiatrie: Sie berichten teils von vollständigen Remissionen depressiver und ängstlicher Symptome – ein Hinweis auf das Potenzial ernährungsbasierter, metabolischer Therapien bei komplexen psychischen Erkrankungen.
Welche Rolle könnte die personalisierte Ernährung in der zukünftigen psychischen Gesundheitsversorgung spielen?
Personalisierte Ernährung – ergänzt durch Mikrobiommodulation und gezielte Supplementierung diagnostizierter Defizite – könnte sich als ein grundlegender Schlüssel zum Behandlungserfolg erweisen. Denn psychische Erkrankungen sind so individuell wie die Menschen, die davon betroffen sind. Um echte Genesung zu ermöglichen, braucht es passgenaue Therapieansätze, die individuelle biologische, psychische und soziale Faktoren gleichermaßen berücksichtigen.
Gibt es bestimmte Routinen oder Ernährungsempfehlungen, die Sie selbst in Ihren Alltag integriert haben?
Ja, ganz wesentlich sind für mich Einfachheit, Achtsamkeit und Rhythmus. Ich achte darauf, regelmäßig zu essen, mir Zeit dafür zu nehmen und wirklich präsent zu sein beim Essen – also ohne Ablenkung, mit Ruhe, mit bewusstem Kauen. Das Selberkochen hat für mich in den letzten Jahren während der Covid-Pandemie eine besondere Bedeutung gewonnen: Es ist nicht nur eine gesunde Gewohnheit, sondern auch ein kreativer und entschleunigender Akt. Frische Zutaten auszuwählen und sie mit Aufmerksamkeit zuzubereiten: Darin liegt für mich eine Form von Selbstfürsorge und auch Erdung nach langen Tagen in der Ambulanz!
Was würden Sie Menschen raten, die ihre mentale Gesundheit durch Ernährung stärken möchten?
Beginnen Sie nicht mit Verboten, sondern mit Aufmerksamkeit und Neugier. Beobachten Sie, wie Sie sich nach dem Essen fühlen – körperlich und emotional. Kleine Veränderungen mit großer Wirkung sind oft: regelmäßig essen, ausreichend trinken, stark verarbeitete Produkte reduzieren und frische, natürliche Lebensmittel in den Mittelpunkt stellen. Ernährung ist kein starres System, sondern ein lebendiger Prozess. Es geht nicht um Perfektion, sondern um Verbindung – mit dem eigenen Körper, den eigenen Bedürfnissen und dem, was nährt.
Header © Opernfoto Graz