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Die Kunst des Nichtstuns: Auszeit für Körper, Geist und Seele

Nichts tun ist eine Kunst – und gesund. Erfahre, warum Pausen wichtig sind und wie du sie in deinen Alltag integrierst.

Das Leben ist eine Sammlung von Paradoxa. Wenn wir etwas zu energisch festhalten wollen, entgleitet es uns. Wenn wir uns verletzlich zeigen, wirken wir besonders stark. Je mehr Wissen wir dazu gewinnen, umso mehr wird uns bewusst, wie wenig wir eigentlich wissen. Freiheit und Sicherheit entstehen aus der Erkenntnis, dass wir vieles nicht unter Kontrolle haben, und: Wenn wir viel zu tun haben, sollten wir umso öfter zwischendurch absolut gar nichts tun. 

Nichts zu tun, die Seele baumeln zu lassen, dem Gras beim Wachsen zuzusehen oder ins berühmte „Narrenkästchen“ zu starren, das ist – so scheint es – nicht gerne gesehen. Wenn wir nicht gerade Überstunden leisten oder jede Menge Mental Load mit uns herumtragen, sollen wir uns bitte ständig selbst optimieren und „sinnvolle“ Dinge mit unserer Zeit anfangen. Doch wer definiert eigentlich, was sinnvoll ist? Und wenn du zurückdenkst an das letzte Problem, bei dem du dich gedanklich im Kreis gedreht hast: Ist dir die zündende Idee in den Sinn gekommen, während du im Stau gestanden und dabei hektisch mit jemandem telefoniert hast oder beim gemütlichen Dösen in der Hängematte? 


Von wegen Ruhe: Unser Körper räumt auf

Mittlerweile ist wissenschaftlich erwiesen, dass Körper und Geist auch oder sogar besonders dann sehr viel leisten, wenn wir vermeintlich nichts tun. Der US-amerikanische Neurowissenschaftler Marcus Raichle hat in einer Studie herausgefunden, dass es in unserem Gehirn ein „default mode network“ gibt, also ein Ruhezustands-Netzwerk, das genau dann am aktivsten ist, wenn wir ziemlich inaktiv sind. Dieses Netzwerk ermöglicht es uns, unser übliches Gedankenkarussell und generell uns selbst von außen zu betrachten. Wir können uns aus dem unüberwindbar scheinenden Kreisverkehr unserer Verhaltensmuster entfernen und eine neue Ausfahrt nehmen. Der Kognitionswissenschaftler Andrew Smart erklärt dazu in seinem Buch „Autopilot – The Art & Science of Doing Nothing“, dass das Default-Mode-Netzwerk die Selbsterkenntnis, das autobiografische Gedächtnis, soziale und emotionale Vorgänge und die Kreativität unterstützt. All das hat Bestand, solange du dich ausruhen kannst. 

Das beste Beispiel, wie produktiv unser Körper ist und wie lebenswichtig diese Vorgänge sind, zeigt ein Blick auf unseren Schlaf, der nicht umsonst als „Hausmeister des Gehirns“ bezeichnet wird. Sobald wir im Land der Träume ankommen, steht in unserem Körper Großputz auf dem Programm. So wird beispielsweise das glymphatische System aktiviert, das neurotoxische Abfallprodukte aus unserem Gehirn entfernt. Haben wir einen guten Anteil an REM-Schlaf, werden Informationen besser und langfristig im Hirn gespeichert und es kommt zu einer verstärkten Aktivität des sympathischen Nervensystems. Der Wechsel aus Ruhe und Aktivität während der unterschiedlichen Schlafphasen sorgt dafür, das Herz flexibel und anpassungsfähig zu halten. Im Tiefschlaf wiederum wird in unserem Körper Somatotropin, das Wachstumshormon, ausgeschüttet, das essentiell für Zellregeneration, Muskelwachstum und die Reparatur von Gewebe ist. Chronischer Schlafmangel ist mit einem erhöhten Risiko für Bluthochdruck und Arteriosklerose verbunden, kann aber auch Stoffwechselerkrankungen oder psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen fördern. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass ausreichend Schlaf und Ruhe lebensnotwendig sind. 

Mehr darüber, was unser Körper noch so alles leistet, während wir sanft schlummern, liest du in unserem Artikel über die Heilkraft des Schlafes!


Achtung Ablenkung: Vom Smartphone bis zum eigenen Hirn

Die Versuchungen, sich vom Nichtstun abzuhalten, lauern überall. Allen voran in unserem eigenen Kopf. Du setzt dich auf die Couch mit dem festen Vorsatz, einfach nur mal ein bisschen dazusitzen und nichts zu machen. Dein Blick schweift durch das Wohnzimmer und die innere To-do-Liste beginnt zu rattern: Die Blumen sehen trocken aus, die sollte ich dringend gießen. Oh Gott, wann hab ich eigentlich das letzte Mal die Fenster geputzt? Ich wollte noch nach neuen Sitzpolstern für die Stühle am Esstisch schauen. Wenn ich mit diesem Nichtstun fertig bin, muss ich unbedingt Brot und Eier auf die Einkaufsliste schreiben und mit dem Staubtuch den Fernsehschrank abwischen. 

Wenn wir uns nicht selbst im Weg stehen, dann tut es vor allem dieser kleine, feine Taschencomputer, den wir Smartphone nennen und dessen Aktivitätsprotokoll uns zu unserem Schrecken erzählt, dass wir gestern fast vier Stunden damit verbracht haben, Katzen-Videos zu schauen und uns über den Zustand der Welt wahlweise zu ärgern oder zu sorgen. Das Wichtigste auf dem Weg zum gesunden Nichtstun ist, diese ersten Impulse zu überwinden und im wahrsten Sinne des Wortes “auszusitzen”. Wenn wir nichts tun, dürfen die Wäscheberge ungewaschen, die Fenster dreckig und die Welt da draußen die Welt sein. Alles hat seine Zeit und jetzt ist es Zeit, nichts zu tun. 

Sei es über Social Media, unser E-Mail-Postfach oder die drei verpassten Anrufe – unser Hirn wird jeden Tag mit unzähligen und meist zu vielen Informationen und Reizen bombardiert. Wir geben ihm aber kaum Zeit, all das auch zu verarbeiten und wie beim Frühjahrsputz auszusortieren, was wir uns davon überhaupt merken oder genauer ansehen sollten. Die Wichtigkeit von Pausen zeigt sich schon in kleinen Zeitmodellen: Laut einer Studie der Draugiem Group aus Lettland für ihr Produkt “DeskTime” arbeiten Menschen am produktivsten in 52-Minuten-Phasen mit einer anschließenden Pause von 17 Minuten. Dieses Arbeit-Pause-Modell gibt dem Gehirn Zeit, alles zu verarbeiten und Energie für neue Ideen freizugeben. Es hilft, konzentriert zu bleiben, und beugt Erschöpfung vor. 

Wenn dich das Thema näher interessiert, dann schau bei unserem Artikel vorbei in dem es darum geht, welche Wirkung die intensive Nutzung digitaler Medien auf unser Gehirn hat!


Energieboost in 20 Minuten: Die Macht des Power Naps 

Auch ein Power Nap zwischendurch tut unserer Gesundheit gut. Laut einer Studie der NASA steigert in etwa eine halbe Stunde Powernapping die Reaktionsschnelligkeit um 16 Prozent und verringert Aufmerksamkeitsausfälle um 34 Prozent. Wissenschaftler der Harvard School of Public Health wiederum konnten in einer Studie aufzeigen, dass ein Mittagsschläfchen von höchstens 30 Minuten das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen um bis zu 37 Prozent reduzieren kann. Für den perfekten Power Nap gibt es übrigens drei gute Tipps: 

  1. Dein Schläfchen sollte unter 30 Minuten bleiben. 
  2. Ideal wäre ein dunkler, ruhiger und kühler Raum. Ist das nicht möglich, können Ohrstöpsel und eine Schlafbrille helfen. 
  3. Trinke vor deinem Power Nap eine Tasse Kaffee. Die aufputschende Wirkung tritt nämlich in der Regel ca. 20 Minuten nach dem Genuss ein – also dann, wenn du erfrischt aus deinem Mittagsschlaf erwachst. 

Die Philosophie des Nichtstuns: Mit Neugier und Spiel zu sich selbst

Doch kommen wir zurück zum Nichtstun. Die Künstlerin Jenny Odell findet in ihrem Buch „Nichts tun“ einen schönen Vergleich für dieses besondere Gefühl, das wir bekommen, wenn wir es schaffen, uns dem Nichtstun ganz hinzugeben. Sie erinnert es an die kindliche Neugier und sie führt weiter aus: 

„Neugier ist das, was mich dazu bringt, mich so sehr in etwas zu vertiefen, dass ich mich selbst vergesse.“ 

Dabei wird ihrer Ansicht nach unsere Aufmerksamkeit für uns greifbar und wir schauen uns in gewisser Weise selbst dabei zu, wie wir sehen und Dinge im Hier und Jetzt wahrnehmen. 

In Momenten, in denen wir nichts tun und ohne To-do-Liste, ohne Zeitplan, ohne inneren Sturm und Drang einfach präsent sind, bemerken wir auch oft, dass sich die Zeit irgendwie auszudehnen scheint. Im Alltag und über das Jahr betrachtet, empfinden wir meistens eher das Gegenteil. Gerade waren wir mit den Kindern noch in Italien am Strand im Sommerurlaub und gefühlt zwei Momente später schmücken wir den Weihnachtsbaum. Auch wenn es um die Dehnbarkeit der Zeit geht, erinnert man sich beim Nichtstun ein bisschen an Kindheitstage. Wenn man sich ganz in der eigenen Welt verlieren und mehrere Stunden im Spielen versinken konnte. Vielleicht brauchen wir diese Auszeiten also nicht nur für unsere gestresste erwachsene Seele, sondern auch für unser in uns schlummerndes Kinderherz, das sich nach Momenten der Zerstreuung und dem Beweis für Einsteins Relativitätstheorie sehnt. 

Geben wir uns der Stille und dem Nichtstun hin, dann schweigt nicht nur unser oftmals viel zu hoher Anspruch an uns selbst. Wie Pascal Mercier in seinem Roman „Das Gewicht der Worte“ so schön sagte: 

„In der Stille schweigen die Erwartungen der anderen.“ 

Wenn es ruhig ist, sind wir ganz bei uns. Keine Ablenkung, keine Zurufe, keine schiefen Blicke. Dieser Moment kann beängstigend sein, vor allem, wenn du gerade schwierige Zeiten durchlebst oder dich neu orientierst. Er kann aber auch sehr befreiend sein, denn in den Momenten des Nichtstuns entscheidest du ganz alleine. Wohin ziehen meine Gedanken? Worüber tagträume ich heute? Was kann und darf alles sein, wenn es nur nach mir geht? Die Bühne der Gedanken gehört ganz dir. 


Der Weg ist ohne Ziel: Schritte zum Nichtstun

Wenn wir uns vornehmen, heute einfach mal nichts zu tun, denken wir: Das ist die leichteste Sache der Welt. Bis wir dasitzen und die schmutzigen Fenster bemerken. Wie kommen wir also zu diesem Punkt des Loslassens, wenn uns doch ständig so viele Dinge festhalten? Wir haben uns da ein paar Schritte überlegt: 

Die Wichtigkeit des Nichtstuns

Durch die Dinge, die du in diesem Artikel erfahren hast, ist dir die Wichtigkeit des Nichtstuns nun sicherlich bewusst geworden. Das ist der erste Schritt und ein wichtiges Mantra, das wir uns immer wieder in Erinnerung rufen müssen, wenn wir vor lauter To-dos die Must-haves nicht mehr sehen: 

Nichtstun ist eine Aufgabe und gesund für Körper, Geist und Seele. Ich bin genug – auch im Nichtstun. Im Loslassen entsteht Raum. 

Oder, um auf die Paradoxa des Lebens zurückzukommen: 

Wer sich finden möchte, muss sich regelmäßig ein wenig verlieren. 

Nichtstun will geplant werden

Wie eben gesagt ist Nichtstun eine Aufgabe, und wenn wir zunächst nach dem Schema gehen, das wir kennen, dann sollten wir auch diese Aufgabe in gewisser Weise planen. Plane in deinem Alltag kurze Pausen ein, ebenso wie Tage, an denen du keine Pläne hast, um ganz bewusst ins Nichtstun zu kommen. 

Rituale braucht der Mensch

Finde deinen persönlichen Weg, indem du ausprobierst und experimentierst (Hallo kindliche Neugier und Spielfreude). Finde heraus, was du benötigst, um zur Ruhe zu kommen und dich aufs Nichtstun einlassen zu können. Musst du erst einen Spaziergang machen, um die Energie aus deinem Körper zu bekommen? Trinkst du eine Tasse Tee im Stehen in der Küche? Machst du ein paar Atemübungen, um deinen Rhythmus zu finden? Hast du eine Playlist, die dein Nervensystem beruhigt? Alles, was dir auf dem Weg hilft und dir nicht anderweitig schadet, darf sein. 

Am Rande der Nervenberuhigung

Randzeiten des Tages sind ein guter Startpunkt, um kleine Momente des Nichtstuns einzubauen. Bist du ein Morgenmensch, dann stehe eine halbe Stunde früher auf und nutze sie, um einfach mal ohne Plan und Ziel aus dem Fenster zu schauen und die Morgenluft einzuatmen. Du bist eher ein Abend- oder Nachtmensch? Wer sagt, dass man Tagträumen nicht auch auf die stillen Stunden, wenn alle anderen schon im Bett sind, verlegen kann?  

Bewegt dem Nichtstun entgegen

Ein Spaziergang in der Natur, ohne Aufgabe, ohne Musik auf den Ohren, ohne Smartphone in der Hand und vielleicht sogar ein bisschen ziellos, kann Wunder wirken. Die frische Luft bläst durch das altbekannte Gedankenkarussell. Das Vogelgezwitscher und das Rauschen der Bäume verbinden sich zu einer sanften Hintergrundmelodie und nicht nur du, sondern auch deine Gedanken dürfen auf jenem Weg wandern, den du ganz spontan am schönsten findest. 

Gemeinsam bei sich sein

Der Gedanke, ganz alleine ins kalte Wasser des Nichtstuns zu springen, macht dir Angst? Schließlich weiß man oft nicht so genau, welche Gefühle einem dort entgegen schwimmen. Dann tu dich mit Leuten zusammen, mit denen du ganz authentisch du selbst sein kannst. Trefft euch z. B. zum Plaudern im Park. Mit Picknickdecke, leichten Gesprächen, ein bisschen über das Leben philosophieren und dann schweigend nebeneinander im Schatten dösen oder gemeinsam die Entdeckungen teilen, die man macht. Sieht diese Wolke, die gerade vorbeizieht, nicht aus wie ein brüllender Löwe? So kannst du gemeinsam und doch ganz bei dir sein.

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