Die gezielte Stimulation des Nervensystems durch elektrische Impulse eröffnet neue Wege zur Behandlung chronischer Schmerzen, neurologischer und internistischer Erkrankungen.
Nervenstimulation gehört zu den spannendsten Entwicklungen der modernen Medizin: Mit präzise dosierten elektrischen Impulsen lässt sich die Aktivität von Nervenbahnen gezielt beeinflussen – und damit das Zusammenspiel von Gehirn, Rückenmark, Organen und Muskeln modulieren. Doch wie funktioniert das genau? Warum sprechen manche Beschwerden besonders gut darauf an? Und welche Formen von Stimulation gibt es – von einfachen, nicht-invasiven Methoden bis hin zu komplexen implantierten Systemen? Wir erklären dir die Grundlagen, beschreiben verschiedene Verfahren, zeigen Einsatzgebiete auf und beleuchten aktuelle Forschungsprojekte im deutschsprachigen Raum, die das Potenzial dieser Technologie weiter vorantreiben.
Inhalt
- Was versteht man unter Nervenstimulation?
- Bei welchen Erkrankungen und Beschwerden wird Nervenstimulation eingesetzt?
- Welche Varianten von Nervenstimulation gibt es?
- Warum Körperrhythmus und Timing wichtig sind: Erkenntnisse der TU Wien
- Aktuelle und laufende Forschungsprojekte im DACH-Raum
- Bedeutung und Potenzial: Worauf es bei Nervenstimulation ankommt
Was versteht man unter Nervenstimulation?
Unter „Nervenstimulation“ versteht man Verfahren, bei denen elektrische (oder mitunter auch magnetische oder mechanische) Impulse gezielt eingesetzt werden, um Nerven oder neuronale Netzwerke zu modulieren – also ihre Aktivität zu verändern, zu verstärken oder abzuschwächen. Ziel ist es, Signalübertragung, Reflexe oder neuronale Aktivität zu beeinflussen, um therapeutische Effekte zu erzielen.
Grundprinzip ist, dass Nerven – ähnlich wie elektrische Leitungen – elektrische Impulse transportieren, die Informationen zwischen Gehirn, Rückenmark und Organen übermitteln. Wird etwa die Übertragung gestört oder ist sie aus dem Gleichgewicht (z. B. zwischen dem aktivierenden System „Sympathikus“ und dem beruhigenden „Parasympathikus“), kann dies zu Fehlfunktionen führen. Nervenstimulation nutzt die „Sprache der Nerven“: Durch künstlich erzeugte, gezielt gerichtete elektrische Signale soll der Nerv wieder „kommunizieren“ – und so zur Wiederherstellung eines physiologischen Gleichgewichts beitragen.
Damit kann Nervenstimulation eine Alternative oder Ergänzung zu Medikamenten sein – mit weniger Nebenwirkungen und einem potenziell breiteren therapeutischen Einsatz.
Bei welchen Erkrankungen und Beschwerden wird Nervenstimulation eingesetzt?

Nervenstimulation wird in einer Reihe von medizinischen Bereichen eingesetzt:
Chronische Schmerzen: Beispielsweise neuropathische Schmerzen, Rücken- oder Gelenkschmerzen, Folgen von Verletzungen oder Operationen, häufig dann, wenn konventionelle Schmerztherapien nicht ausreichend wirken.
Neurologische Erkrankungen: Dazu zählen z. B. Spastizität nach Rückenmarksverletzungen, neuropathische Schädigungen (z. B. durch Diabetes) oder chronische Nervenschmerzen.
Psychiatrische und neuropsychiatrische Erkrankungen: Manche Formen der Stimulation — insbesondere mit elektrischem oder magnetischem Reiz – werden bei Depression, Angststörungen, Epilepsie, Migräne und anderen Erkrankungen erprobt bzw. eingesetzt. So wird die nicht-invasive Stimulation des Vagusnervs (VNS / tVNS) als Therapieoption für Depressionen, Epilepsie oder Migräne angegeben.
Organ- und Systemerkrankungen / entzündliche Erkrankungen / internistische Beschwerden: Da der Vagusnerv viele innere Organe steuert – Herz, Verdauung, Stoffwechsel – gibt es Ansätze, mit Nervenstimulation Einfluss auf Funktionen wie Herzfrequenz, Stoffwechsel oder Entzündungsreaktionen zu nehmen.
Rehabilitation bei Rückenmarksverletzung oder neurologischen Schäden: Neuromodulation kann helfen, Funktionen wiederherzustellen oder Spastizität und Schmerzen zu reduzieren.
In vielen Fällen zielt die Nervenstimulation nicht auf Heilung ab, sondern auf Linderung von Symptomen, Verbesserung der Lebensqualität, Reduktion von Schmerzmitteln oder Wiederherstellung bzw. Verbesserung von Körperfunktionen.
Welche Varianten von Nervenstimulation gibt es?
Nervenstimulation ist keine einzelne Technik – es existieren viele Varianten, je nachdem welcher Nerv / welches Organ / welches Ziel adressiert werden soll und wie invasiv die Methode ist. Hier die wichtigsten Ansätze und Kategorien:
Nicht-invasive Stimulation
Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS): Elektroden auf der Haut (z. B. an Gelenken, Muskeln, schmerzenden Bereichen) senden kleine elektrische Impulse – häufig genutzt in Physiotherapie, Schmerztherapie und Rehabilitation. Vorteile: keine Operation, einfache Anwendung, auch ambulant bzw. zu Hause möglich.
Nicht-invasive Vagusnervstimulation (tVNS): Elektroden (z.B. am Ohr) stimulieren den Vagusnerv von außen – z. B. bei Epilepsie, Depression, Migräne, chronischen Schmerzen oder entzündlichen Erkrankungen.
Magnetische oder andere Formen (z. B. transkranielle Magnetstimulation TMS, transkranielle elektrische Stimulation tDCS): Diese Ansätze zielen vor allem auf das Gehirn ab und werden z. B. bei Depressionen, Schlaganfall-Rehabilitation oder neuropsychiatrischen Erkrankungen verwendet.
Invasive bzw. implantierte Neurostimulation
Zentrale Neurostimulation – z. B. Rückenmarkstimulation (Spinal Cord Stimulation, SCS): Elektroden werden operativ neben dem Rückenmark bzw. in den Wirbelkanal implantiert. Ein Stimulator (ähnlich einem „neuralen Schrittmacher“) reguliert Schmerzsignale, blockiert oder moduliert sie, bevor sie das Gehirn erreichen. Besonders bei therapieresistenten chronischen Schmerzen, neuropathischen Schmerzen, Spastizität oder nach Rückenoperationen.
Zentrale hochkomplexe Verfahren – z. B. implantierte Vagusnervstimulatoren, tiefe Hirnstimulation (DBS) etc.: Dabei werden Elektroden chirurgisch ins Gehirn oder entlang von Nervenbahnen implantiert, verbunden mit einem batteriebetriebenen Gerät (Neurostimulator). Solche Verfahren werden z. B. bei Bewegungsstörungen, Epilepsie, psychischen Erkrankungen oder schweren chronischen Erkrankungen eingesetzt – besonders wenn nicht-invasive Methoden nicht ausreichend sind.
Forschungs- und neuartige Ansätze / Adaptive Neuromodulation
Rhythmus-synchronisierte Stimulation: Wie in einem Forschungsprojekt der TU Wien gezeigt, kann Stimulation synchron zum Herzschlag und zur Atmung, um natürliche Körperrhythmen zu respektieren, die Wirkung intensivieren.
Multielektroden / selektive Nervenmodulation: Bei der Stimulation peripherer Nerven, z. B. des Vagusnervs, werden multielektronische Cuff-Elektroden erforscht, um gezielt einzelne Fasergruppen (z. B. solche, die Herzfrequenz steuern) differenziert anzusprechen – mit dem Ziel, Nebenwirkungen zu minimieren und gezielter zu therapieren.
Neue Technologien (z. B. bio-elektronische Implantate, patientenspezifisch, 3D-gedruckt, kombiniert mit regenerativen Materialien): Das Projekt DEEPSTIM beispielsweise arbeitet an einem patientenspezifisch konzipierten Implantat für Rückenmarksverletzungen, das elektrische Stimulation mit Biomaterialien kombiniert, um neuronale Regeneration zu unterstützen. Dazu aber später noch mehr.
Closed-Loop-Systeme: Geräte, die nicht nur stimulieren, sondern gleichzeitig biologische Signale messen und die Stimulation in Echtzeit adaptiv anpassen – je nach Zustand des Nervensystems. Solche Systeme befinden sich in der Forschung und könnten in Zukunft eine genauere individualisierte Therapie ermöglichen. Ein Beispiel aus der Grundlagenforschung (nicht direkt klinisch) ist ein Gerät namens WAND, das simultan mit hoher Kanalanzahl stimulieren und Gehirnaktivität aufzeichnen kann, mit Echtzeit-Artefakt-Unterdrückung.
Warum Körperrhythmus und Timing wichtig sind: Erkenntnisse der TU Wien

Wie bereits kurz erwähnt, kommt ein besonders innovativer Ansatz von der TU Wien: In einer Studie – in Kooperation mit der Wiener Privatklinik – wurde gezeigt, dass die Wirkung der Stimulation deutlich besser ist, wenn sie mit den natürlichen Körperrhythmen – insbesondere Herzschlag und Atmung – synchronisiert wird.
Diese Erkenntnis könnte entscheidend dafür sein, warum bisherige Versuche mit Nervenstimulation nicht immer die erhofften Effekte zeigen: Wenn man den Körper „im Rhythmus“ anspricht, wird das Gehirn empfänglicher – quasi genau dann, wenn es ohnehin „hinhört“. Im Umkehrschluss heißt das aber: Eine Stimulation ohne Rücksicht auf den Körperrhythmus kann ineffizient oder sogar wirkungslos sein.
Das hat weitreichende Bedeutung – nicht nur für die Forschung, sondern auch für klinische Anwendungen: Für maximale Effektivität sollte Neurostimulation idealerweise nicht statisch, sondern adaptiv und synchron zu physiologischen Signalen erfolgen.
Aktuelle und laufende Forschungsprojekte im DACH-Raum
Im deutschsprachigen Raum gibt es mehrere interessante aktuelle Forschungsanstrengungen zur Neurostimulation — mit Fokus auf Standardisierung, Evidenz, Innovation und neue Indikationen:
Die klinische Neurostimulation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist derzeit Gegenstand eines umfangreichen Forschungsnetzwerks, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird. Ziel dieser Initiative ist es, einheitliche wissenschaftliche und klinische Standards zu entwickeln und multizentrische, konfirmatorische Studien zur Wirksamkeit neurostimulativer Verfahren bei psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen durchzuführen. Beteiligt sind zahlreiche Kliniken und Universitäten im gesamten deutschsprachigen Raum, darunter auch die Medizinische Universität Wien, die mit ihrer Expertise zur Weiterentwicklung evidenzbasierter Behandlungsmethoden beiträgt.
Ein weiteres bedeutsames Projekt, das wir bereits kurz erwähnt haben, ist DEEPSTIM, ein vom Europäischen Forschungsrat (ERC) gefördertes Vorhaben, das im Februar 2025 gestartet ist. Das Projekt verfolgt das Ziel, patientenspezifisch angepasste, elektrisch leitfähige Implantate zu entwickeln, die bei Rückenmarksverletzungen neue therapeutische Perspektiven eröffnen sollen. Dabei kombiniert DEEPSTIM elektrische Stimulation mit innovativen regenerativen Biomaterialien, um geschädigte Nervenbahnen zu unterstützen, die Regeneration zu fördern und langfristig eine bessere Wiederherstellung neurologischer Funktionen zu ermöglichen.
Auch die Forschung zur Reduktion von Spastizität durch Rückenmarkstimulation spielt im DACH-Raum eine wichtige Rolle. Ein Beispiel dafür ist das Projekt „Spinal cord stimulation: Carry-over effects on spasticity“, das mit Unterstützung eines österreichischen Forschungsfonds zwischen 2018 und 2023 durchgeführt wurde. In diesem Forschungsvorhaben wurde untersucht, inwieweit elektrische Stimulation des Rückenmarks nachhaltige Verbesserungen bei Spastizität erzielen kann – insbesondere bei Menschen mit Querschnittslähmung oder anderen neurologischen Schädigungen, bei denen herkömmliche Therapien oft nur begrenzt wirksam sind.
Diese Beispiele zeigen: Der DACH-Raum ist aktiv – nicht nur in der Anwendung von Nervenstimulation, sondern zunehmend auch in der systematischen Erforschung, Weiterentwicklung und Standardisierung neurostimulativer Verfahren.
Bedeutung und Potenzial: Worauf es bei Nervenstimulation ankommt
Die kombinierte Sicht aus Anwendung, Technik und Forschung macht klar: Wenn Nervenstimulation richtig eingesetzt wird – mit dem richtigen Nerv, der passenden Technik und möglichst im Einklang mit körpereigenen Rhythmen –, kann sie echte therapeutische Wirkung entfalten.
Multidisziplinarität: Nervenstimulation vereint Kenntnisse aus Neurologie, Medizintechnik, Bioelektronik, Psychiatrie und Physiologie. Daher profitieren Patienten am ehesten, wenn ein interdisziplinäres Team die Therapie begleitet – wie bei invasiver Neurostimulation üblich.
Individualisierung: Durch neue Technologien wie patientenspezifische Implantate oder „smart“ gesteuerte Stimulatoren (z. B. Closed-Loop-Systeme) kann Neurostimulation zunehmend auf individuelle Bedürfnisse angepasst werden – abhängig von Schweregrad, Rhythmus, Körperzustand und Krankheitsbild.
Weniger Nebenwirkungen als Medikamente: Viele Formen sind nicht-invasiv oder zumindest reversibel, sie umgehen systemische Belastungen wie bei Medikamenten – eine potenziell schonende Alternative oder Ergänzung.
Forschung und Evidenz im Aufbau: Der wachsende Kreis von klinischen Studien und Forschungsprojekten im DACH-Raum erhöht die wissenschaftliche Basis – das wird in den kommenden Jahren die Sicherheit, Wirksamkeit und Akzeptanz weiter stärken.
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