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Entzündungen und ihre Auswirkungen auf unser Gesundheit: Johannes Schmid über Forschung, Prävention und Präzision

Univ. Prof. Dr. Johannes Schmid von der MedUni Wien im Gespräch über die Bedeutung von Entzündungen für Krankheiten wie Krebs und Herzinfarkt, den Einfluss von Lebensstilfaktoren und die Zukunft der Präzisionsmedizin.

Univ. Prof. DI Dr. Johannes A. Schmid leitet das Institut für Gefäßbiologie und Thromboseforschung an der Medizinischen Universität Wien und hat sich einen Namen als anerkannter Experte im Bereich Entzündungsprozesse gemacht. Im Interview mit hashtagPRAXIS gibt er Einblicke in seine Arbeit und beleuchtet die weitreichenden Auswirkungen chronischer Entzündungen. Er erklärt, wie diese nicht nur die Blutgerinnung und das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen, sondern auch zur Entstehung von Krebs beitragen können. Zudem spricht er über neue Ansätze in der Präventionsmedizin, den Einsatz von künstlicher Intelligenz zur Gesundheitsvorsorge und innovative Technologien wie Omics-Analysen. Mit einem klaren Fokus auf personalisierte Medizin und interdisziplinäre Zusammenarbeit beschreibt er seine Vision einer präziseren, individuell angepassten Gesundheitsvorsorge.

Wie entstehen Entzündungen im menschlichen Körper? 

Das ist gar nicht so leicht zu erklären. Eine Entzündung ist eine normale physiologische Reaktion des Körpers auf schädigende Reize oder Stresssituationen für die Zelle. Stress kann dabei durch Infektionen mit Pathogenen entstehen – der klassische Auslöser einer Entzündungsreaktion – aber auch durch Faktoren wie UV-Strahlung, Hitze, mechanische Gewebeschädigung oder Fremdstoffe. Der Körper aktiviert in solchen Fällen ein Abwehrprogramm, bei dem der Transkriptionsfaktor NF-κB eine zentrale Rolle spielt.

NF-κB ist normalerweise inaktiv und wartet im Zytosol auf Aktivierung, die über verschiedene Signalwege erfolgt. Sobald er aktiviert ist, verändert er das zelluläre Programm grundlegend. Dabei werden unter anderem antiapoptotische Gene aktiviert, die den programmierten Zelltod hemmen. Dies ermöglicht der Zelle zunächst, Überlebensmechanismen zu aktivieren und die Stresssituation zu bewältigen. Gelingt dies nicht, tritt oft der programmierte Zelltod ein, um den Organismus vor einer geschädigten oder entarteten Zelle zu schützen.

Faszinierend ist, dass Botenstoffe den Zelltod initiieren können, jedoch zuvor erst einmal das Zellüberleben ermöglichen. Gleichzeitig werden Andockstellen für weiße Blutkörperchen gebildet, damit diese die Entzündungsstelle erreichen können, sowie Blutgerinnungsfaktoren, da Immunabwehr und Blutgerinnung evolutionär eng miteinander verbunden sind. In der Steinzeit waren diese Mechanismen essentiell, um Verletzungen und Infektionen effizient zu bekämpfen. Für die heutige Zeit bedeutet dies, dass Entzündungen stets mit einer erhöhten Blutgerinnungstendenz einhergehen, was besonders im Alter das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen erhöht.

Pathologische Blutgerinnungsprozesse, wie Thrombosen, können in intakten Blutgefäßen auftreten, insbesondere bei Entzündungsprozessen. Dies zeigt, wie Entzündungen die Balance im Körper stören können. 

Wie kommt es dazu, dass sich eine chronische Entzündung entwickelt? 

Normalerweise sollten entzündliche Signalwege nach Abschluss der Immunabwehr vollständig abgeschaltet werden, doch oft gelingt dies nicht. Meine Lieblingshypothese ist, dass während der Immunabwehr reaktive Sauerstoffverbindungen (ROS) freigesetzt werden, die Keime effektiv bekämpfen, aber gleichzeitig oxidativen Schaden im Gewebe verursachen. Substanzen wie Wasserstoffperoxid wirken dabei desinfizierend, jedoch unspezifisch, sodass sie nicht nur Pathogene, sondern auch körpereigene Moleküle angreifen.

Durch diese Oxidation können körpereigene Substanzen ihre ursprüngliche Struktur verlieren und vom Immunsystem als „verändertes Selbst“ wahrgenommen werden. Dies kann das Immunsystem irritieren und leichte Autoimmunprozesse auslösen. Ein Beispiel sind oxidierte Phospholipide, die zur Atherosklerose beitragen und ebenfalls durch Immunabwehrprozesse entstehen. Solche Prozesse können sich hochschaukeln und zu chronischen, niedriggradigen Entzündungen führen, die nicht vollständig zurückgehen. Diese sogenannten „schwelenden“ Entzündungen, auch als Inflammaging bezeichnet – eine Kombination aus Inflammation und Aging – sind eng mit Alterungsprozessen verknüpft.

Epigenetische Veränderungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Mit zunehmendem Alter werden DNA-Regionen, die entzündliche Signalwege steuern, zugänglicher für Transkriptionsfaktoren. Normalerweise sind solche DNA-Bereiche dicht gepackt und schwer zugänglich, ähnlich einer verschlüsselten Festplatte. Bei chronischen Entzündungen jedoch lockert sich diese Packung, wodurch entzündliche Gene leichter abgelesen werden können. Diese voraktivierten Genregionen tragen dazu bei, dass sich entzündliche Prozesse mit der Zeit verstärken.

Funktioniert dieser Prozess auch in die andere Richtung, also altert mein Körper schneller, wenn er ständig mit chronischen Entzündungen zu kämpfen hat? 

Zu diesem Thema bin ich kein Experte, aber es gibt Indizien, die dafür sprechen. Es gibt zum Beispiel ein interessantes Maus-Modell. Dabei wurde ein bestimmter Hemmfaktor im Körper eines Maus-Stammes eliminiert, wodurch diese Mäuse an einer chronischen systemischen Entzündung leiden. Diese Mäuse hatten nur die Hälfte der Lebensspanne. Das würde darauf hindeuten, dass es auch in die andere Richtung einen Zusammenhang gibt.

Warum ist es so schwierig, chronische Entzündungen im Körper genau zu lokalisieren? 

Chronische Entzündungen sind oft schwer zu erkennen, da sie nicht immer mit klassischen Symptomen wie Schmerzen oder eingeschränkter Funktion einhergehen, die für akute Entzündungen typisch sind, wie z. B. Schwellung, Rötung und Fieber. Zudem fehlen spezifische Marker, die zwischen akuten und chronischen Entzündungen unterscheiden. Der häufig verwendete CRP-Wert zeigt zwar Entzündungen allgemein an, kann jedoch keine klare Unterscheidung treffen.

Ein weiteres Problem ist, dass solche Werte meist nur sporadisch gemessen werden, z. B. einmal jährlich bei Vorsorgeuntersuchungen, was die Erkennung langanhaltender Entzündungszustände erschwert. 

Wie könnte man hier Abhilfe schaffen und das Erkennen chronischer Entzündungen erleichtern?

Regelmäßige Selbsttests, ähnlich wie bei der Blutzuckermessung, könnten hier Abhilfe schaffen. Ein interessanter Ansatz wäre, oxidative Prozesse im Körper messbar zu machen. Reaktive Sauerstoffverbindung (ROS) entstehen bei Entzündungen und führen zur Bildung von reaktiven Stickstoffverbindungen (RNS), die dann körpereigene Proteine nitrosylieren können, also eine NO2-Gruppe an Aminosäuren anhängen. Dies könnte potenziell als Marker für chronische Entzündungen dienen, ähnlich dem Langzeit-Zuckerwert HbA1c, der Rückschlüsse auf die Blutzuckerbelastung der letzten Monate erlaubt. Ein solcher Indikator könnte z. B. anhand langlebiger Zellen wie naiven T-Zellen oder Erythrozyten entwickelt werden, die oxidative Modifikationen wie Nitrotyrosin-Reste akkumulieren.

Ein weiterer möglicher Marker ist Malondialdehyd, ein Molekül, das bei oxidativen Prozessen entsteht. Studien zeigen, dass bestimmte Antikörper gegen Malondialdehyd schützend wirken können, etwa bei Atherosklerose. Solche Erkenntnisse könnten helfen, neue Wege zur Diagnose und Behandlung chronischer Entzündungen zu entwickeln.

Ist eher unsere Genetik oder die Epigenetik für Entzündungsprozesse im Körper verantwortlich? 

Die westliche Ernährungsweise hat nachweislich einen entzündungsfördernden Effekt. Diese Ernährungsweise aktiviert bestimmte Entzündungswege, darunter den Proteinkomplex Inflammasom, der durch energiereiche Nahrungsmittel wie Zucker und Kohlenhydrate verstärkt wird. Damit zeigt sich ein klarer Zusammenhang zwischen Ernährung – also einem wichtigen Teil der Epigenetik – und Entzündungsprozessen.

Es ist noch nicht vollständig geklärt, warum industriell hochverarbeitete Lebensmittel offenbar ungesünder sind als selbst gekochte Speisen, selbst wenn die Zusammensetzung ähnlich ist. Mechanismen dahinter sind noch nicht genau bekannt, aber der Unterschied ist spürbar. Ein Beispiel aus der Lebensmittelproduktion zeigt, wie industrielle Prozesse ablaufen: Essigsäure wird dort oft nicht nach Geschmack, sondern – beispielsweise bei Saucen und Salatdressings – zur Senkung des pH-Werts eingesetzt, um die Haltbarkeit zu verlängern. Der hohe Säuregrad wird dann mit Zucker ausgeglichen, sodass der Körper den Unterschied zu hausgemachten Speisen mit einem milderen pH-Wert nicht wahrnimmt.

Interessant ist der Ansatz einer Zuckersteuer, wie in Großbritannien, der nachweislich gesundheitliche Vorteile gebracht hat. Unternehmen reduzieren Zucker in ihren Produkten, um Preiserhöhungen zu vermeiden, was sich positiv auf die Gesundheit der Bevölkerung auswirkt. Generell spielen Ernährung, Lebensstil und Bewegung eine entscheidende Rolle für die Gesundheit. Es geht darum, Selbstverantwortung zu fördern, anstatt eine „Service-Mentalität“ zu pflegen, bei der man nur im Krankheitsfall handelt. Gesundheit erfordert präventive Maßnahmen und bewusste Entscheidungen im Alltag, nicht erst das Nachsteuern im Alter durch Nahrungsergänzungsmittel oder Medikamente.

Welche Rolle spielen Schlaf und der eigene Chronotyp in diesem Zusammenhang? 

Schlaf ist von zentraler Bedeutung für die Gesundheit, wird jedoch in unserer modernen Gesellschaft oft vernachlässigt. Dabei zeigt die Forschung, dass Schlafmangel und unregelmäßige Schlafzeiten entzündliche Prozesse im Körper fördern können. Es ist wichtig, den eigenen Chronotyp, also die persönliche innere Uhr, zu respektieren, da Arbeiten gegen diese innere Uhr ungesund sein kann.

In einem von mir und Kollegen initiierten Bürgerbeteiligungsprojekt wurde der sogenannte Schlafmittelpunkt untersucht – der Zeitpunkt, der die Mitte des Schlafs markiert. Die Ergebnisse zeigten, dass spätere Schlafmittelpunkte mit einem Anstieg von Entzündungsparametern korrelieren, vermutlich weil dies den natürlichen zirkadianen Rhythmus stört. Schlafmangel oder Schlaf zu ungeeigneten Zeiten führt häufig zu einer Disbalance im vegetativen Nervensystem: Der Sympathikus, zuständig für Aktivität und Stressreaktionen, dominiert dann über den Parasympathikus, der für Ruhe und Regeneration steht. Ein Sympathikus-Überhang kann zu vermehrter Adrenalinfreisetzung und damit zu einer Zunahme entzündlicher Prozesse führen. Eine Tierstudie verdeutlicht die Auswirkungen: Mäuse, die wiederholt aus ihrem Schlaf gerissen wurden, zeigten eine schnellere Entwicklung von Gefäßverkalkungen. Das unterstreicht, wie wichtig erholsamer und regelmäßiger Schlaf für die langfristige Gesundheit ist.

Wie ist der Zusammenhang zwischen psychischen Belastungen sowie Erkrankungen und Entzündungen? 

Studien zeigen, dass psychische Traumata in der Kindheit langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit haben können, was auch in unserem Bürgerbeteiligungsprojekt untersucht wurde. Obwohl die Teilnehmenden tendenziell aus höheren Bildungsschichten stammen und keine schwer traumatisierten Personen sind, zeigten sich klare Zusammenhänge zwischen psychischem Stress in der Kindheit und späteren gesundheitlichen Parametern.

So hatten Personen mit höherem Stress oder Traumata in der Kindheit messbar höhere Entzündungswerte im Blut, was mit einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall assoziiert ist. Zudem war ihr Schlafverhalten beeinträchtigt: Sie berichteten häufiger von Schlafunterbrechungen und schlechterem Durchschlafen. Auffällig war auch der Einfluss auf das persönliche Wohlbefinden. Auf einer Skala zur Selbsteinschätzung des Glücklichkeitsgefühls zeigten sich deutliche negative Korrelationen – selbst Jahrzehnte nach der Kindheit fühlten sich Betroffene im Durchschnitt weniger glücklich.

Zusätzlich bleibt unklar, inwiefern psychische Traumata oder höherer Stress in der Kindheit den späteren Lebensstil beeinflussen und so indirekt negative Auswirkungen haben könnten. Beispielsweise könnten Betroffene ungünstige Gewohnheiten wie verstärkten Alkoholkonsum entwickeln oder Verhaltensweisen annehmen, die auf übermäßiges Streben nach Anerkennung abzielen, was wiederum gesundheitliche Konsequenzen nach sich ziehen kann. Es zeigt sich, dass viele dieser Faktoren miteinander verknüpft sind, wodurch es schwierig wird, direkte von indirekten Effekten zu unterscheiden. Statistische Zusammenhänge lassen sich zwar feststellen, aber klare Ursache-Wirkung-Beziehungen bleiben oft unbestimmt.

Können Entzündungen umgekehrt auch zu psychischen Erkrankungen führen? 

Ja, das ist ein wichtiger Punkt, man muss immer in beide Richtungen schauen. Ich bin kein Experte dafür, aber ich denke, sobald chronische Entzündungsprozesse mit einem latenten Schmerz verbunden sind, hat das natürlich auch Auswirkungen auf die Psyche. Es kann dann zu selbstverstärkenden Prozessen kommen, weil man schlechter schläft und sich die Gesamtsituation dadurch weiter verschlechtert. Deshalb ist es wichtig, Schmerz frühzeitig zu behandeln, damit man nicht in eine Schmerzspirale gerät. 

Ob ein unmerkbarer, subklinischer Entzündungsprozess ohne wahrnehmbaren Schmerz ebenfalls die Psyche beeinflusst, wissen wir nicht genau. Es würde mich nicht überraschen, aber ich habe keine wissenschaftliche Evidenz dafür. 

Welche Rolle spielen geschlechtsspezifische Unterschiede?

Geschlechtsspezifische Unterschiede spielen eine wichtige Rolle, insbesondere in der Prävention und psychischen Gesundheit. Frauen zeigen oft eine größere Aufmerksamkeit für ihren Körper und gehen früher zu Vorsorgeuntersuchungen, während traditionelle Männlichkeitsmodelle wie „hart sein“ in diesem Zusammenhang eher hinderlich sind. Interessanterweise erleben Frauen häufiger psychischen Stress in der Kindheit als Männer, was kulturell bedingte Ursachen haben könnte. Diese Erkenntnisse unterstreichen die Notwendigkeit, Medizin und Prävention geschlechtsspezifischer und diversitätsbewusster zu gestalten. Medizin sollte Unterschiede zwischen Männern und Frauen sowie zwischen ethnischen und kulturellen Gruppen stärker berücksichtigen.

Obwohl es in diesem Bereich bereits Fortschritte gibt, stellen groß angelegte Studien eine Herausforderung dar. Um statistische Sicherheit zu gewährleisten, sind viele Probanden erforderlich, was es erschwert, kleine Subgruppen zu analysieren. Die Zulassung von Behandlungen durch Behörden hängt stark von der statistischen Evidenz ab, was klinische Tests teuer und komplex macht. Dennoch wird die Zukunft der Medizin verstärkt auf individuelle Ansätze setzen müssen.

Stichwort Service-Mentalität: Sollte es Ihrer Meinung nach mehr in Richtung Präventiv- und Präzisionsmedizin gehen?

Auf jeden Fall. Aus meiner Sicht müssen wir davon wegkommen, dass man nichts macht, bis eine Person krank ist, und dann teure Therapiemedizin nach 0815-Kriterien und Klinikguidelines eingesetzt wird. Stattdessen müssen wir hin zu einer präzisen, personalisierten Präventionsmedizin. Das heißt, bevor die Person krank wird, schaue ich, welche Vorstufen von Erkrankungen oder Prädispositionen sie hat, und versuche dann, ganz spezifische Empfehlungen zu geben – im Idealfall in Richtung von Lebensstiländerungen, ohne dass ich gleich Medikamente verschreiben muss. Und das muss dann auch möglichst konkret sein. 

Meine Vision ist, dass wir in zehn Jahren mit einer Kombinationsanalyse aus Lebensstilfaktoren und klinischen Parametern einer Vorsorgeuntersuchung gezielter vorbeugen können. Mithilfe künstlicher Intelligenz könnten künftig personalisierte Empfehlungen für Lebensstiländerungen gegeben werden, basierend auf Daten wie Blutwerten und Lebensgewohnheiten. So könnte jemand mit Bluthochdruck z. B. erfahren, dass mehr Schlaf und/oder weniger Fleischkonsum den Blutdruck in seinem spezifischen Fall reduzieren würden, während es bei einer anderen Person eine andere spezifische Empfehlung geben würde. Durch solche individuellen Lebensstiländerungen könnte man im Idealfall eine tägliche Einnahme von Medikamenten vermeiden – oder aber die notwendige Dosis und damit unerwünschte Nebenwirkungen reduzieren. 

Es gibt bereits spannende Entwicklungen mit Künstlicher Intelligenz im Gesundheitsbereich. Könnte sie in einem wie von Ihnen eben beschriebenen Gesundheitsmodell auch bei der Datenauswertung helfen? 

Neuronale Netze und künstliche Intelligenz könnten in so einem Modell die Daten auswerten. Ich denke, wir werden in Zukunft mehr Datenwissenschaftler brauchen, die Wege finden, wie man mit der wachsenden Datenflut umgeht und das Beste daraus herausliest. Allerdings stehen uns oft die sehr strengen Datenschutzregelungen der EU im Weg. Ich sage manchmal pointiert: Statt Menschen zu schützen, schützen wir Daten.

Ein Beispiel ist die Zersplitterung des Gesundheitswesens in föderale Strukturen. Dadurch fehlen uns die großen Datenmengen, die wir bräuchten, um etwa Krebsmuster besser zu erkennen. Es ist extrem schwierig, medizinische Daten so zu verknüpfen, dass wir daraus optimal lernen können. Durch die aktuellen Datenschutzbestimmungen schießen wir uns hier ein bisschen selbst ins Knie.

Ich verstehe natürlich, dass Menschen ihre privaten Daten geschützt haben wollen. Aber es ist erstaunlich, wie viele von ihnen bereitwillig persönliche Daten auf sozialen Medien teilen, während sie bei Gesundheitsdaten extrem strikt sind und sagen: „Das gebe ich nicht her.“ Dabei könnte das Teilen solcher Daten zu ihrem eigenen Vorteil sein. Es gibt Mechanismen wie Pseudonymisierung oder Anonymisierung, die sicherstellen, dass niemand individuell identifizierbar ist. Trotzdem könnten wir so aus vielen anonymen Datensätzen Krankheitsmuster erkennen und möglicherweise frühzeitig intervenieren, bevor Krankheiten ausbrechen.

Kommen wir zu den Folgeerkrankungen, die Entzündungen auslösen bzw. begünstigen können: Ist es richtig, dass ein Zusammenhang besteht zwischen chronischen Entzündungen und einem erhöhten Krebsrisiko?

Das ist richtig. Mutationen entstehen häufig durch mutagene Substanzen, UV-Strahlung oder Fehler in der DNA-Replikation. Normalerweise reparieren Enzyme solche Schäden. Wenn jedoch ein Tumor-Suppressor betroffen ist, kann die Zelle in Richtung bösartiger Veränderungen getrieben werden. Oft sterben mutierte Zellen von selbst ab oder teilen sich nicht mehr (durch onkogene Seneszenz oder Apoptose). Befindet sich eine solche Zelle jedoch in einem entzündlichen Milieu mit aktiviertem NF-κB, sind Überlebensgene aktiv, wodurch die Zelle trotz Mutationen weiterleben und sich teilen kann. Dies erhöht das Risiko für Krebs.

Ein Beispiel ist Lungenkrebs, der durch mutagene Stoffe im Tabakrauch und chronische Entzündungen im Lungengewebe begünstigt wird. Ähnliche Zusammenhänge bestehen bei Blasen-, Prostata- und Darmkrebs. Besonders im Darm spielt die Darmflora eine Rolle. Eine gesunde Darmflora, die mit dem Körper in Symbiose lebt, produziert wichtige Substanzen wie Vitamin K. Wird sie jedoch ungesund, können chronische Darmentzündungen entstehen, die wiederum das Krebsrisiko erhöhen.

Besteht auch ein Zusammenhang zwischen Entzündungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen? 

Wir hatten es schon kurz erwähnt, dass chronische Entzündungszustände die Blutgerinnung fördern. Damit fördern sie in weiterer Folge auch thrombotische Prozesse wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das liegt daran, dass bei Entzündungen bestimmte Blutgerinnungsfaktoren verstärkt gebildet werden, wie Fibrinogen (Faktor 1), Faktor 5, Faktor 8 und der Tissue-Faktor (Faktor 3), der durch Entzündungen hochreguliert wird. Der Körper erzeugt sozusagen eine Voraktivierung des Gerinnungssystems, was bedeutet, dass schon ein kleiner Trigger ausreicht, um die Gerinnung auszulösen.

Wenn diese Gerinnung in einem Herzkranzgefäß auftritt, kann das Gefäß verstopfen, wodurch der Herzmuskel oder Teile davon nicht mehr versorgt werden – es kommt zu einem Herzinfarkt, der schnell lebensbedrohlich sein kann. Besonders gefährlich ist das, wenn Atherosklerose über Jahrzehnte Gefäße schädigt. Zusammen mit einem durch Entzündung voraktivierten Gerinnungssystem kann dann ein Plug plötzlich aufreißen und innerhalb von Sekunden zu einem Gefäßverschluss führen.

Ähnliche Prozesse können auch an anderen Stellen des Körpers passieren: In den Beinvenen führt das zu Thrombosen, in der Lunge zu einer Lungenembolie, wenn ein Thrombus durch die rechte Herzkammer in die Lunge geschleudert wird. Wenn die Halsschlagader betroffen ist, kann es zu einem Schlaganfall kommen. Die Folgen hängen davon ab, wo die Gerinnsel auftreten oder hinwandern.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind laut WHO weltweit die häufigste Todesursache – sie machen etwa 33 Prozent aller Todesfälle aus, wobei diese sich etwa gleichmäßig auf Herzinfarkt und Schlaganfall verteilen. Im Vergleich dazu sind Krebserkrankungen für etwa 17 Prozent der Todesfälle verantwortlich. Obwohl Krebs oft früher im Leben auftritt, verlieren Betroffene durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs in etwa gleich viele Lebensjahre.

Ist es richtig, dass es auch ein Zusammenspiel von Entzündungen, Krebserkrankungen und kardiovaskulären Erkrankungen gibt? 

Das Dreieck aus Entzündung, Krebs und kardiovaskulären Erkrankungen interessiert mich besonders, weil diese Bereiche stark miteinander verknüpft sind. Wir wurden von der renommierten Fachzeitschrift Molecular Cancer eingeladen, einen Übersichtsartikel zu diesem Thema zu schreiben, an dem wir aktuell arbeiten und der demnächst erscheinen soll.

Krebspatientinnen und -patienten haben ein deutlich erhöhtes Risiko für Thrombosen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das liegt daran, dass Krebs selbst einen chronischen Entzündungszustand erzeugt, und einige Krebszellen können sogar Blutgerinnungsfaktoren bilden. Wie hoch das Risiko ist, hängt von der Krebsart ab. Zum Beispiel gibt es bei Menschen, die an Bauchspeicheldrüsen-Krebs erkrankt sind ein etwa 20-fach erhöhtes Risiko für thrombotische Prozesse, während es bei Prostatakrebs „nur“ etwa verdoppelt ist – was natürlich trotzdem noch signifikant ist. Viele Krebspatientinnen und -patienten sterben letztlich nicht an der Krebserkrankung selbst, sondern an thrombotischen Komplikationen.

Zudem erhöhen moderne Immuntherapien wie Checkpoint-Inhibitoren zwar die Effektivität des Immunsystems gegen Krebs, fördern aber auch Atherosklerose und damit kardiovaskuläre Erkrankungen. Diese Herausforderung haben wir noch nicht gelöst. Es wird in Zukunft wohl spezifischere Immuntherapien geben, die gezielter arbeiten.

Um noch weitere Faktoren zu definieren: Wie hängen erhöhte Blutzuckerwerte mit dem Thema Entzündungen und Folgeerkrankungen zusammen? 

Das alles hängt stark zusammen. Adipositas führt zu chronischen Entzündungen, da Immunzellen im Bauchfett entzündliche Botenstoffe freisetzen. Starkes Übergewicht hat einen klaren proinflammatorischen Effekt, und häufig folgt darauf Typ-2-Diabetes, also Altersdiabetes. Dabei können die Betroffenen zwar noch Insulin produzieren, aber die Körperzellen reagieren nicht mehr richtig darauf, was den Blutzuckerspiegel dauerhaft erhöht.

Das schädigt die Blutgefäße, beeinträchtigt die Netzhautdurchblutung und führt zu Kapillarschäden, schlechterer Durchblutung der Zehen und Finger sowie verzögerter Wundheilung. Außerdem wird das Immunsystem geschwächt – ein Paradoxon, denn trotz der chronischen Entzündung haben Diabetiker eine schlechtere Immunantwort auf Infektionen. Das erhöht das Risiko für eine Sepsis oder postoperative Infektionen. Gerade bei geplanten Operationen wie Hüftprothesen wird es oft kompliziert: Werte sind zu hoch, Risiken zu groß, und alles zieht sich hin. 

Hohe Cholesterinwerte sind ebenfalls für viele Menschen ein gesundheitliches Problem. Welche Zusammenhänge gibt es in Bezug auf diesen Wert? 

Cholesterin spielt eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Besonders interessant ist die Hypothese des kumulativen Cholesterin-Stresses, die besagt, dass nicht nur der aktuelle Cholesterinspiegel, sondern auch die Gesamtdauer, über die ein erhöhter Wert besteht, also das kumulative Cholesterin, das Risiko für Arteriosklerose und damit verbundene Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall bestimmt. Bei genetischen Erkrankungen wie der familiären Hypercholesterinämie, die zu extrem hohen Cholesterinwerten führen, kann es bereits im Alter von 25 bis 30 Jahren zu Herzinfarkten kommen. Die kumulative Belastung erreicht hier früh einen kritischen Schwellenwert. Bei normalen Cholesterinkurven treten solche Probleme meist erst mit etwa 60 Jahren auf. Deshalb wäre es sinnvoll, den Cholesterinspiegel schon in jungen Jahren zu senken, um den Beginn dieser kritischen Phase hinauszuzögern.

Die Standardtherapie, Statine, hemmt die körpereigene Cholesterinproduktion, da ein Großteil des Cholesterins nicht über die Nahrung aufgenommen, sondern im Körper selbst synthetisiert wird. Statine haben jedoch mitunter Nebenwirkungen wie Muskelkrämpfe, die bei manchen Patientinnen und Patienten die Bereitschaft zur Einnahme verringern. Außerdem spielt der sogenannte Nocebo-Effekt eine Rolle, also ein „negativer Placebo-Effekt“: Wenn Menschen von möglichen unerwünschten Nebenwirkungen wissen, treten diese auch häufiger auf, selbst wenn sie nicht direkt durch das Medikament verursacht werden.

Gibt es eine Alternative zu dieser Behandlung? 

Eine wichtige Alternative zu Statinen sind neuere Therapien, die den Regulator PCSK9 hemmen. PCSK9 beeinflusst die Aufnahme von LDL-Cholesterin in die Zellen. Man hat diesen Regulator vor rund 20 Jahren entdeckt, als man Patientinnen und Patienten mit genetischer Hypercholesterinämie untersuchte und herausfand, dass in einigen Fällen dieses Gen überaktiv war.  Kurz darauf wurde gefunden, dass bei manchen Personen, bei denen dieses Gen reduziert oder inaktiviert ist, besonders niedrige Cholesterinspiegel auftreten und das Herzinfarktrisiko reduziert ist. Durch Antikörper, die man etwa alle zwei Wochen bekommt, kann die Funktion von PCSK9 blockiert werden, sodass mehr Cholesterin in die Zellen aufgenommen und abgebaut wird. Dies führt zu einem deutlich niedrigeren LDL-Spiegel im Blut. Ein zweiter, sehr neuer Ansatz ist, dass man dieses Gen durch siRNA, die man als Spritze verabreichen kann, unterdrückt. Diese Medikamente eignen sich besonders für Menschen, die Statine nicht vertragen oder auf sie nicht ansprechen. Ein Vorteil: siRNA-basierte Präparate müssten von Menschen mit einem halbwegs normalen Cholesterinwert nur zweimal im Jahr, möglicherweise sogar nur einmal, verabreicht werden, und der LDL-Spiegel könnte als Vorsorge langfristig gesenkt werden.

Die Kosten sind allerdings ein großes Hindernis. Während die Herstellungskosten solcher Medikamente im Bereich von wenigen Euro liegen, verlangen Hersteller aktuell angeblich etwa 15.000 Euro pro Behandlung im Jahr. Dies wirft ethische Fragen auf, da solche Technologien potenziell einen großen Einfluss auf die öffentliche Gesundheit haben könnten, wenn sie breiter zugänglich wären. Mit einer fairen Preisgestaltung könnte man mehr Menschen behandeln und so langfristig die Krankheitslast durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen verringern. 

Solche vorsorgenden Medikamente oder Impfstoffe gibt es wahrscheinlich auch für andere gesundheitliche Probleme wie Bluthochdruck. Um solche Preise zu regulieren, müsste es wohl Vorgaben seitens der Politik geben, oder? 

Es gibt immer mehr Entwicklungen in Richtung moderner, langfristig wirkender Behandlungen, etwa bei Bluthochdruck, wo man nicht mehr täglich Tabletten nehmen müsste, sondern ein- bis zweimal jährlich eine Spritze erhalten könnte. Solche Innovationen werfen allerdings die Frage auf, wie die Politik mit großen Pharmakonzernen verhandelt. Das Problem ist, dass das Gesundheitswesen oft zu kleinteilig organisiert ist, etwa in Österreich, wo solche Verhandlungen teilweise auf Bundesländerebene stattfinden. Das ist ineffizient – internationale Verhandlungen wären nötig, bei denen man klare Rahmenbedingungen schafft, damit solche Behandlungen für die breite Bevölkerung leistbar werden.

Die Politik könnte dafür sorgen, dass Konzerne zwar weiterhin Gewinne machen und damit ihre Forschung finanzieren, aber trotzdem flächendeckende Versorgung möglich wird, vor allem bei für das Gemeinwohl wichtigen Themen. Das wäre ein ähnlicher Ansatz wie bei der Eindämmung des Rauchens, wo durch Preiserhöhungen und andere Maßnahmen über viele Jahre hinweg ein positiver Effekt erzielt wurde. Langfristig könnte man so ähnliche Ergebnisse erzielen: eine breite Vorsorge durch niedrigere Preise, getragen von der Sozialversicherung. Statt nur wenige Tausend teure Behandlungen zu verkaufen, könnten Millionen Menschen Zugang zu kostengünstigen Impfungen oder Behandlungen erhalten – nur dann eben für z. B. 30 Euro statt 15.000 Euro pro Behandlung. Das würde nicht nur den Menschen, sondern auch dem Gesundheitssystem insgesamt zugutekommen.

Sie haben vorhin bereits kurz Ihr Bürgerbeteiligungsprojekt angesprochen. Können Sie uns dazu mehr erzählen? 

Vor einigen Jahren habe ich ein Bürgerbeteiligungsprojekt ins Leben gerufen, nachdem der Wissenschaftsfonds FWF dazu angeregt hatte, solche Initiativen zu entwickeln. Das Grundkonzept war, Schülerinnen und Schüler der 7. und 8. Klassen eines Gymnasiums einzubinden, die wiederum jeweils fünf Familienmitglieder rekrutieren sollten. So erreicht man auch Menschen, die bei normalen Umfragen nicht teilnehmen würden, da zum Beispiel ein Enkelkind seine Oma leichter überzeugen kann. Das reduziert den sogenannten Selection Bias – also die Verzerrung, dass vor allem gesundheitsaffine Personen teilnehmen.

Mit der Förderung des FWF konnten wir Sequenzierungen durchführen und die Epigenetik in weißen Blutkörperchen untersuchen. Nach der Initialphase über eine Schule haben wir dann Medizinstudentinnen und -studenten eingebunden. Das Projekt ist longitudinal angelegt und wird jedes Jahr weitergeführt. Bis jetzt haben wir knapp 600 verwertbare Datensätze, wobei deutlich mehr Personen teilgenommen haben. Da das Ausfüllen des Fragebogens zeitaufwendig ist, brechen manche leider ab. Deshalb ermutige ich Medizinstudenten, sich direkt mit den Personen hinzusetzen und die Umfrage gemeinsam auszufüllen.

Welche Daten werden erhoben und läuft die Teilnahme anonymisiert ab?

Wir erheben Daten der klassischen Gesundenuntersuchung, die in Österreich allerdings leider nicht vollständig standardisiert ist – Blutbild, Leberwerte, Cholesterin sind meist enthalten, aber z.B. Fibrinogen nicht immer. Ergänzend bitten wir die Teilnehmenden, ihre Lebensstilfaktoren ehrlich anzugeben – Schlafgewohnheiten, Ernährung, Alkoholkonsum, Arbeitsbelastung, Kindheitstraumata und vieles mehr. Insgesamt erfassen wir rund 200 Parameter. Alles ist komplett anonymisiert, ohne Namen oder Geburtsdaten. Die Teilnehmenden geben sich selbst einen Code, mit dem sie später in einer Datenwolke ihren eigenen Status im Vergleich zu anderen einsehen könnten. Dieses Feature funktioniert derzeit erst in Ansätzen, soll aber weiterentwickelt werden, denn wir wollen natürlich, dass die Teilnehmenden von ihrer Beteiligung profitieren und auch neue Erkenntnisse gewinnen.

Was ist das Ziel der Erhebung dieser großen Menge an Daten und welche wissenschaftlichen Vorteile bringt diese Form der Datenerfassung?

Der Kern des Projekts ist eine umfassende Korrelationsanalyse: Jeder der 200 Parameter wird mit jedem anderen verglichen, wodurch eine komplexe Matrix entsteht. Wir finden dabei erwartete, aber auch unerwartete Zusammenhänge. Die Ergebnisse können neue Hypothesen anregen, die wir weiter testen können. Im Unterschied zur klassischen Statistik, die isolierte Effekte untersucht, behalten wir die Gesamtheit der Einflüsse im Blick. Dafür nutzen wir Netzwerkanalysen: Die Korrelationsmatrix wird in eine Software geladen und als Netzwerk visualisiert. Hier zeigt sich, welche Faktoren eng miteinander verknüpft sind – sogenannte Central Hubs, also zentrale Knotenpunkte. Diese sind besonders wichtig, weil man durch Veränderungen an solchen Punkten ein ganzes Krankheitsnetzwerk beeinflussen könnte.

Wir haben zudem Wege gefunden, die Teilnehmenden in Cluster zu gruppieren, die gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen. So lassen sich z. B. gesunde und kranke Cluster unterscheiden. Ziel ist es, herauszufinden, welche Parameter verändert werden müssten, um von einem „kranken“ Cluster in ein „gesundes“ zu wechseln.

Inzwischen geben Medizinstudenten die Gesundheitsbögen von den Personen, die sie rekrutieren, selbst ein. Danach erhält die rekrutierte Person einen Link, um ihre Lebensstilfaktoren selbstständig einzugeben. Auf diese Weise vermeiden wir Eingabefehler bei den Werten und die Teilnehmenden müssen weniger Zeit aufwenden. Ich möchte dieses Projekt weiter ausbauen, brauche dafür aber noch mehr Daten und langfristige Unterstützung.

Was waren für Sie bislang die überraschendsten Erkenntnisse bzw. Zusammenhänge? 

Es gab einige überraschende Erkenntnisse, etwa bei den Schlafgewohnheiten. Einen habe ich zuvor schon angesprochen: den Schlafmittelpunkt. Der Schlafmittelpunkt, also der Zeitpunkt in der Mitte des Schlafes, zeigte überraschende Zusammenhänge mit dem Cholesterinspiegel. Dies weist darauf hin, dass der Tagesrhythmus eine wichtige Rolle für die Stoffwechselgesundheit spielt.

Besonders spannend war, dass eine Studentin sich den Kaffeekonsum genauer angeschaut hat. Kaffee, vor allem schwarz oder mit wenig Milch, erhöht zwar den Cholesterinspiegel, wirkt aber anti-inflammatorisch und reduziert das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Der Konsum von drei bis vier Tassen pro Tag kann die Mortalität um bis zu 15 Prozent senken.

Sehr spannend! Was ist das langfristige Ziel des Bürgerbeteiligungsprojekts? 

Wir wollen nun langsam beginnen, die Ergebnisse der Studie in wissenschaftlichen Journalen zu publizieren und uns auch stärker mit anderen Forschenden vernetzen, die ähnliche Arbeiten machen. Ende November 2024 habe ich dafür einen Antrag für ein EU-weites Doctoral Network eingereicht. Ziel ist, dass in zehn Ländern insgesamt 14 Arbeitsgruppen zu Themen wie Entzündungen und kardiovaskulären Erkrankungen zusammenarbeiten. Dabei haben wir auch gesehen, dass es in den USA ähnliche Projekte gibt, die Lebensstilfaktoren und Gesundheitsparameter untersuchen.

Ein wichtiger Teil dieser Arbeit ist die Datenwissenschaft. Ich arbeite zum Beispiel mit Kooperationspartnern an der BOKU Wien zusammen, um unsere Daten systematisch auszuwerten. Auch mit Peter Klimek, bekannt aus der Corona-Zeit, möchte ich kooperieren, weil es darum geht, unterschiedliche Disziplinen und Expertisen zu kombinieren, um bessere Erkenntnisse zu gewinnen. Ein langfristiges Ziel ist es, mithilfe von künstlicher Intelligenz individualisierte Empfehlungen geben zu können und dabei wissenschaftlich fundierte Aussagen zu treffen.

Über das Konsortium planen wir auch mehr Omics-Analysen, also die Untersuchung von RNA, DNA und Epigenetik. Statt 30 Blutparametern könnte man dabei etwa 3.000 messen und völlig neue Aussagen treffen. Meine Vision wäre, dass die österreichische Gesundheitskasse alle fünf Jahre eine solche sogenannte Shotgun-Proteomics-Messung bezahlt. Damit könnten Menschen schon mit 30 oder 35 wissen, wo sie gesundheitlich stehen, was gerade für die Prävention extrem sinnvoll wäre.

Solche Erkenntnisse aus Bürgerbeteiligungsprojekten könnten auch Entscheidungsträger überzeugen. Zwar wären solche Maßnahmen anfangs kostspielig, aber langfristig könnten sie Geld sparen. Ein Problem ist, dass die Pharmaindustrie an solchen Lösungen oft weniger Interesse hat, weil sie nicht patentierbar sind. Wenn Menschen ihren Lebensstil ändern, können sie ihre Produkte nicht so gut verkaufen. Natürlich ist die Pharmaindustrie wichtig – sie finanziert teure Forschung und klinische Studien. Aber wir dürfen uns nicht zu stark von internationalen Pharmakonzernen beeinflussen lassen. Es braucht ein Umdenken in der Prävention und Gesundheitsversorgung.

Du möchtest auch am Bürgerbeteiligungsprojekt von Johannes Schmid teilnehmen?

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