© Freepik © Freepik

Integrative Stimmtherapie und Stimmpädagogik nach Evemarie Haupt: Von Balance und Vernetzung

Wie Evemarie Haupts Methode, Gesangspädagogik, Stimmtherapie und Stimmbildung vereint und der Logopädie einen großen Dienst erweist.

Gesang und die Kraft der Stimme – das bedeutete für Evemarie Haupt alles. Sie arbeitete in ihrem Leben in den Bereichen Konzertgesang, Gesangspädagogik, Stimmbildung für Chöre und Musikkritik, bis sie sich schließlich mit einer Stimmlippenlähmung und Stimmlippenknötchen wiederfand. Auf der Suche nach Heilung lernte sie einen zu der Zeit noch seltenen Logopäden, ausgebildet nach der Methode Schlaffhorst-Andersen, kennen und fand ihre Stimme wieder. Nach diesem Erlebnis stand für sie fest, dass sie zum einen das Fachgebiet der Logopädie erlernen wollte und zum anderen, dass sie das, was sie ihr ganzes bisheriges Leben gelernt und geübt hatte, mit den Lehren der Logopädie verbinden wollte. Daraus entwickelte sie die ISTP, die Integrative Stimmtherapie und Stimmpädagogik.

Gesangspädagogik, Stimmbildung und Stimmtherapie

Mit ihrer Methode verbindet Haupt die Gesangspädagogik mit der Stimmbildung und der Stimmtherapie. Dabei ist zunächst kurz zu definieren, welche Aufgaben, die unterschiedlichen Bereiche übernehmen. Bei der Gesangspädagogik wird von einem intakten Klangkörper ausgegangen, der verbessert und zur vollen Entfaltung gebracht werden soll. In der Stimmbildung wird pädagogisch vorgegangen und das Ziel ist den Klangkörper zu trainieren sowie die stimmliche Gesundheit zu gewährleisten. Bei der Stimmtherapie soll ein beeinträchtigter Klangkörper wiederhergestellt werden. All diese Bereiche greifen immer wieder ineinander und haben Überschneidungen. Egal, in welchem der drei Bereiche man therapeutisch oder lehrend tätig ist, man ist mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert, die zeigen, dass eine Verzweigung der unterschiedlichen Bereiche für alle Beteiligten Vorteile bringt. 

So gibt es in der Stimmbildung beispielsweise sehr unterschiedliche Ausbildungssituationen. Chorleitende sind z. B. oft musikalisch gut ausgebildet, haben aber mitunter wenig Kenntnisse, was die Stimmgesundheit oder psychologische Elemente betrifft. Logopädinnen und Logopäden wiederum sind nicht automatisch auch auf dem Gebiet der Stimmtherapie ausgebildet, vor allem in der Singstimmtherapie. Hier kommt die Integrative Stimmtherapie und Stimmpädagogik nach Evemarie Haupt ins Spiel, da sie in allen drei Bereichen – Gesangspädagogik, Stimmbildung und Stimmtherapie – eingesetzt werden kann und auch darüber hinaus weitere Disziplinen bereichern und zusammenbringen kann, wie beispielsweise die Logopädie.

Alles in Verbindung und Balance

Am Anfang der Methode steht ein holistischer Ansatz, der die gesamte Persönlichkeit und das Umfeld der Person, mit der gearbeitet wird, im Blick hat. Die Fähigkeiten und Ressourcen des Menschen werden wahrgenommen und gestärkt. Erst im nächsten Schritt werden Defizite ausgeglichen. Der Begriff „Integrativ“ bedeutet im Zusammenhang mit der Methode von Evemarie Haupt, dass alle methodischen Möglichkeiten und komplementären Verfahren herangezogen werden können, um eine gesundheitliche und persönliche Balance herzustellen. Denn die Stimme ist ein Balance-Phänomen. Nur wenn sich Menschen wohlfühlen, können sie ihr vollkommenes Stimmpotenzial ausschöpfen und wenn sie das tun, sorgt es im Gegenzug wieder für weiteres Wohlbefinden. Dargestellt wird diese Balance durch die sechs Bereiche des Stimmfunktionskreises. Befinden sich diese Elemente in Balance, können laut Haupt Stimmentfaltung, Gesundheit und persönliche Entwicklung erzielt werden. Die ISTP integriert alle stimmtherapeutischen und -pädagogischen Methoden und Verfahren und ordnet sie, entsprechend ihrer Spezialisierung, den jeweiligen Bereichen des Stimmfunktionskreises zu.

Eine neue Methode wird geboren

Evemarie Haupt wurde 1980 von der Universität Ulm gebeten, die Fächer Stimmbildung und Stimmtherapie für Logopädinnen und Logopäden zu unterrichten und dies in weiterer Folge auch an der Universität München und an Fachhochschulen in Österreich zu tun. Obwohl es zahlreiche Methoden wie Schlaffhorst-Andersen oder Coblenzer gab, die sie faszinierten, war sie nach wie vor auf der Suche nach einem Grundlagenmodell, das für sie stimmig alle Bereiche und Methoden zusammenführte. Um diesem Modell näherzukommen, stellten sich Haupt zwei Fragen:

Wann geschieht die erste Stimmäußerung des Menschen?

Die erste stimmliche Äußerung des Menschen erfolgt mit dem Geburtsschrei. Der Geburtsschrei entsteht durch eine Kette von Wahrnehmungsreizen, die Reflexreaktionen im zentralen Nervensystem auslösen. Diese Reaktionen stimulieren das Atemsystem und aktivieren beim Ausatmen die Stimmlippen. Die erste Stimmäußerung ist zunächst vokalisch, und dieses Muster gilt als Grundprinzip aller späteren stimmlichen Äußerungen. Diese fundamentale Stimmreaktion bildet die Grundlage der Integrativen Stimmtherapie und Stimmpädagogik und des bereits vorhin erwähnten Stimmfunktionskreises. Der Stimmfunktionskreis umfasst sechs miteinander verbundene und sich gegenseitig beeinflussende Bereiche: Wahrnehmung, Intention, Haltung und Bewegung, Atmung, Stimme sowie Sprechen. Diese Bereiche können genutzt werden, um Stimmfunktionen, Störungen und entsprechende Methoden gezielt einzuordnen und anzuwenden.

Wie genau entsteht diese erste Stimmäußerung?

Die Entstehung des Geburtsschreis ist ein faszinierendes und noch nicht vollständig verstandenes Phänomen. Bemerkenswert ist, dass Neugeborene, trotz ihrer kleinen Stimmlippen, lange und kraftvoll schreien können, ohne heiser zu werden. Eine mögliche Erklärung liegt im sogenannten „Streckreflex“. Dieser Reflex, ausgelöst von den Füßen, richtet die Wirbelsäule auf und ermöglicht eine freie Schwingungsfähigkeit des Körpers. Diese Schwingungsfähigkeit ist entscheidend für einen gelösten Atemfluss, eine modulationsfähige Stimmgebung und klare Artikulation. Die Integrative Stimmtherapie und Stimmpädagogik baut auf diesem Prinzip auf und strebt eine dynamische Balance in allen Bereichen des Stimmfunktionskreises an, um Stimme, Gesundheit und Persönlichkeit zu fördern.

Aus dem Zusammenspiel der sechs Bereiche des Stimmfunktionskreises hat Evemarie Haupt drei Grundsätze definiert: 

  • Stimme ist Schwingung. Wo Druck ist, kann nicht Schwingung sein.
  • Tonusbalance, durch Streckreflex mit Aufrichte-Impuls, Atembalance, durch geräuschlose Einatmung 
  • Stimmbalance, die Ruf- und Singstimme ist die Klang-Grundlage der Sprechstimme.

Qigong für Klang und Stabilität

In ihrer Arbeit, unter anderem auch mit Hochleistungsstimmen aller Genres, ist Evemarie Haupt immer wieder aufgefallen, das viele Menschen beim Singen eher den oberen Körperbereich anspannen, als sich auf den unteren Bereich zwischen Füßen und Kreuzbein zu richten. Besonders hinsichtlich dieses Problems hat sich die Arbeit mit dem „Streckreflex mit Aufrichte-Impuls“ bewährt, ebenso wie die Arbeit mit den Prinzipien des Qigong, das nach der Regel „Oben leicht und frei – unten fest und stabil“ wirkt. Die entsprechenden Übungen bringen beachtliche Resultate für die Stimmentfaltung und die Stimmgesundheit, aber auch für die Erkältungsvorbeugung und das eigene Selbstbewusstsein. Des Weiteren liegt der Druck bei Sängerinnen und Sängern oft auf den Vokalen – es mangelt an einer Vokal-Konsonanten-Balance – und viele haben auch Probleme mit einem mangelnden Stimmlippenschluss, also sogenannter „wilder Luft“. Qigong-Übungen können hier mit relativ wenig körperlichem Einsatz eine erstaunlich große Wirkung auf Stimmumfang, Dynamik und Klangqualität haben.

Inhalte der ISTP in den sechs Bereichen des Stimmfunktionskreises

Die Inhalte der Integrativen Stimmtherapie und -pädagogik werden in den sechs Bereichen des Stimmfunktionskreises gezielt umgesetzt und an die jeweilige Art der Arbeit mit der Stimme angepasst, sei es therapeutisch, pädagogisch oder künstlerisch. Der Unterschied liegt vor allem in der Verschiebung des Fokus: Bei der Stimmtherapie konzentriert sich die Arbeit auf die ersten vier Bereiche des Stimmfunktionskreises, da hier medizinische Kriterien dominieren. Die stimmpädagogische Stimmbildung legt den Schwerpunkt auf die letzten vier Bereiche, während die künstlerische Gesangspädagogik alle sechs Bereiche umfasst, jedoch vor allem die letzten beiden betont. Alle Ansätze berücksichtigen stets die Vernetzung der Bereiche.

Wahrnehmung

Die Wahrnehmungsfähigkeit für die eigene Person und das Umfeld wird geschult, z. B. durch Training der Sinnesorgane und Übungen wie den „Tondauer-Test“. Es wird untersucht, ob jemand ein „Klangtyp“ oder „Ausdruckstyp“ ist. Hörwahrnehmung und die Fähigkeit, den stimmlichen Ausdruck zu deuten, werden ebenfalls gefördert.

Intention

Es geht darum, Motivation und Zielsetzungen sowohl für den Unterricht insgesamt als auch für jede einzelne Stunde zu definieren. Emotionen in der Stimme sollen zum Ausdruck kommen. Übungen wie „Paradoxes Sprechen“ helfen, widersprüchliche Botschaften zu erkennen. Die ursprüngliche Freude am Singen wird gezielt gefördert.

Haltung und Bewegung

Spannungsbalance und Tonuslage werden mithilfe von „Eutonischen Übungen“, dem „Streckreflex mit Aufrichte-Impuls“ und Qigong erarbeitet. Rhythmische Impulse, auch durch die „Akzentmethode“, tragen zur Bewegungskoordination bei. Massageübungen nach dem „Fünf-Elemente-System“ ergänzen das Training.

Atmung

Die Atemtechnik wird durch Nasenatmung, „Reflektorische Atemergänzung“ nach Coblenzer und Qigong-Übungen vertieft. Ziel ist ein freier Atemfluss, der auch vorbeugend gegen Erkältungen wirkt. Atmung und Bewegung werden in Einklang gebracht, um das Sprechen und Singen zu unterstützen.

Stimme

Übungen wie die „Sechs Stimmpflege-Übungen“ und Gesangsübungen bereiten die Stimme auf musikalische Werke vor. Mit „Primal Sounds“ wird die emotionale Ausdruckskraft gestärkt. Stimmgabeln und Knochenleitungsübungen helfen, Schwingungsfähigkeit und Resonanz zu verbessern. Klangfarben und musikalische Phrasierung werden ebenfalls entwickelt.

Sprechen

Techniken wie „Semioccluded Phonation“ und „Lax Vox“ trainieren die Balance von Vokalen und Konsonanten. Der Ausdrucksgehalt der Sprache wird gezielt erarbeitet, ebenso wie die Interpretation von Texten. Mithilfe der „Sechs Schritte zur Text-Erarbeitung“ wird ein klarer Kommunikationsstil gefördert.

Alle Bereiche des Stimmfunktionskreises stehen in lebendiger Balance zueinander, und der Fokus kann je nach Bedarf verschoben werden. Eine klare Struktur, etwa durch den Arbeitsplan der ISTP, ermöglicht die gezielte Bearbeitung von Defiziten und das Setzen realistischer Ziele. Durch Querverbindungen zwischen den Bereichen können unterschiedliche Stile und internationale Methoden integriert werden, darunter eben auch körperorientierte Ansätze wie Qigong und das Fünf-Elemente-System. Ziel ist es, den Klangkörper in Balance zu bringen und damit Stimme, Gesundheit und künstlerischen Ausdruck zu fördern. Die Verbindung von Stimme und Bewegung unterstützt sowohl die gesundheitlichen Aspekte als auch die künstlerische Vorstellungskraft. Jede Stunde oder Sitzung folgt dieser klaren Struktur, wodurch stets ein individuell angepasstes Vorgehen gewährleistet ist.

Mehr über ISTP erfahren

Das Grundlagenwerk zur Integrativen Stimmtherapie und Stimmpädagogik ist Evemarie Haupts Buch „Stimmt’s? Stimmtherapie in Theorie und Praxis“, bereits in fünfter Auflage erschienen im Schulz-Kirchner Verlag

Sowohl Evemarie Haupt selbst als auch andere Botschafterinnen und Botschafter der Methode ISTP sind regelmäßig mit Vorträgen und Workshops in Österreich und Deutschland unterwegs. Kommende Termine finden sich stets auf der Website des Internationalen Verbandes für Integrative Stimmtherapie und Stimmpädagogik nach Evemarie Haupt.

Bis dahin gibt es hier Einblicke in einen Workshop von Evemarie Haupt selbst:

Header © Freepik