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Posturale Kontrolle und Sturzprävention: Effektive Therapiestrategien für mehr Sicherheit im Alltag

Posturale Kontrolle gezielt fördern: Wie Therapeutinnen und Therapeuten mit sensomotorischem Training Stürzen wirksam vorbeugen können.

Stürze gehören zu den häufigsten Risiken im höheren Alter und bei neurologischen Erkrankungen – mit oft gravierenden Folgen für Mobilität, Selbstständigkeit und Lebensqualität. Ein zentrales Schlüsselelement zur Sturzvermeidung ist die posturale Kontrolle. Sie beschreibt die Fähigkeit des Körpers, Haltung und Gleichgewicht in Ruhe und Bewegung stabil zu regulieren. Wir zeigen, wie Therapeutinnen und Therapeuten durch gezielte sensomotorische Interventionen die posturale Kontrolle stärken und dadurch wirksam zur Sturzprävention beitragen können – fundiert, praxisnah und evidenzbasiert.


Posturale Kontrolle: Definition und Grundlagen

Posturale Kontrolle beschreibt die Fähigkeit des Körpers, eine aufrechte Haltung gegenüber der Schwerkraft zu erhalten – sowohl in Ruhe als auch in Bewegung. Dabei handelt es sich nicht um einen statischen Zustand, sondern um ein dynamisches Gleichgewicht, wie es auch Moshe Feldenkrais betont. Dieses Gleichgewicht wird durch eine komplexe, zentralnervös gesteuerte Integration mehrerer Sinnesinformationen ermöglicht: Visuelle, vestibuläre, propriozeptive sowie exterozeptive Reize werden kontinuierlich verarbeitet. Hinzu kommen antizipatorische Mechanismen, durch die Bewegungsabläufe vorausgeplant werden.

Diese Informationen werden im Zentralnervensystem (ZNS) koordiniert, welches über motorische Impulse Muskelaktivitäten steuert und laufend anpasst. Somit ist Haltung stets als aktiver Prozess zu verstehen, in dem sensorisches Feedback unmittelbar in Bewegungsstrategien umgesetzt wird.


Sturzprävention: Warum Gleichgewicht allein nicht genügt

Insbesondere in Alltagssituationen, in denen unerwartete Reize oder instabile Untergründe auftreten, ist die Qualität der posturalen Kontrolle entscheidend dafür, ob es zu einem Ausgleich der Bewegung oder zu einem Sturz kommt.

Ist die posturale Kontrolle beeinträchtigt – sei es durch Alterungsprozesse, neurologische Erkrankungen, muskuloskelettale Einschränkungen oder sensorische Defizite –, steigt das Risiko für Gleichgewichtsstörungen und Stürze signifikant. Viele Betroffene zeigen Unsicherheit beim Stehen oder Gehen, kompensieren mit erhöhter Körperspannung oder vermeiden herausfordernde Bewegungen – was wiederum zu muskulärer Inaktivität, Instabilität und einem Teufelskreis der Sturzgefahr führt.

Besonders kritisch ist dabei die mangelnde Reaktionsfähigkeit des posturalen Systems auf unerwartete Störungen – beispielsweise bei Stolpern, Drehen oder dem Erreichen entfernter Objekte. Hier sind schnelle, koordinierte Stellreaktionen notwendig, um das Gleichgewicht zu erhalten. Bleibt diese Reaktionsfähigkeit aus oder ist unzureichend, resultiert häufig ein Sturz.

Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen jedoch, dass gezielte Trainingsinterventionen, die die Balance und Muskelkraft verbessern, das Sturzrisiko deutlich senken können – in manchen Studien um bis zu 50 Prozent.


Training posturaler Kontrolle: Prinzipien und Methoden

Ein effektives Training zur Sturzprävention setzt auf vielseitige Ansätze, die unterschiedliche motorische und sensorische Anforderungen kombinieren. Folgende Prinzipien sind dabei zentral:

  • Gleichgewichtsschulung: Übungen im Einbeinstand, Tandemstand oder auf instabiler Unterlage fordern die Haltemuskulatur und die sensorische Integration.
  • Dynamisches Gleichgewicht: Bewegungsaufgaben, die gezielte Verlagerungen des Körperschwerpunkts erfordern, verbessern die antizipatorische Kontrolle.
  • Reaktive Kontrolle: Übungen mit plötzlichen, unvorhersehbaren Impulsen trainieren die Fähigkeit zur raschen Gleichgewichtsreaktion.
  • Sensomotorische Variationen: Durch Einschränkungen des visuellen Inputs (z. B. Augen schließen) oder veränderte Bodenbeschaffenheiten wird die propriozeptive und vestibuläre Verarbeitung gefördert.
  • Dual-Task-Training: Kognitive Zusatzaufgaben (z. B. Zählen während des Gehens) erhöhen die Alltagsnähe und fördern die automatische Stabilisierung.

Arthrose und Bewegung

Wie wichtig gezielte Bewegung auch bei Gelenkproblemen ist, erfährst du im Artikel Arthrose und Bewegung: Therapie und Training bei Gelenkverschleiß.


Multimodales Training: Kombination von Kraft, Ausdauer und Koordination

Für eine nachhaltige Verbesserung der posturalen Kontrolle und zur wirksamen Sturzprävention ist die alleinige Fokussierung auf Balanceübungen nicht ausreichend. Besonders effektive Programme vereinen Elemente aus dem Krafttraining zur Stabilisierung der Gelenke, Ausdauertraining zur Vermeidung von Ermüdung der Haltungsmuskulatur und Koordinationstraining.

Diese multimodalen Programme sollten funktionell ausgerichtet sein, also Bewegungsabläufe trainieren, die im Alltag häufig vorkommen – wie Aufstehen, Drehen oder Gehen auf unebenem Untergrund. Ziel ist es, nicht nur körperlich, sondern auch sensorisch und kognitiv auf typische Sturzsituationen vorbereitet zu sein.


ZNS-Läsion: Auswirkungen auf Haltung und Bewegung

Ein besonderer Fall ist gegeben, wenn es zu einer Schädigung des Zentralnervensystems (ZNS) kommt. Hier sind meist mehrere Wahrnehmungskanäle betroffen – was zu einer gestörten posturalen Kontrolle führt. Besonders auffällig ist dabei häufig eine Tonusveränderung im Sinne einer Spastik, beispielsweise nach einem Schlaganfall.

Ein typisches Beispiel ist das sogenannte Wernicke-Mann-Gangbild, das häufig nach einer Schädigung des zentralen Nervensystems auftritt. Dabei zeigen sich tonische Mitbewegungen, auch assoziierte Reaktionen genannt – zum Beispiel ein überhöhter Beugungstonus im Arm, der diesen in eine gebeugte, körpernahe Position zieht. Gleichzeitig ist beim Gehen charakteristisch, dass das betroffene Bein seitlich in einem Halbkreis ausgeschwungen wird, da es aufgrund von Spastik und fehlender aktiver Steuerung nicht normal nach vorne geführt werden kann.

Die therapeutische Herausforderung liegt darin, die betroffenen Wahrnehmungsleistungen gezielt zu behandeln, um so Einfluss auf die posturale Kontrolle zu nehmen. Der Fokus dieses Ansatzes liegt auf dem Verständnis und der Behandlung von Tonusverhältnissen.


Muskelkompensation: Wenn phasische Muskeln übernehmen

Fehlt die ausreichende Aktivierung der tonischen posturalen Muskulatur, wie zum Beispiel der paravertebralen Rumpfmuskeln, kann der Körper seine aufrechte Haltung im Schwerkraftfeld nicht effizient stabilisieren. In der Folge übernehmen phasische Muskeln – also eigentlich bewegungsorientierte Muskeln – kompensatorisch Aufgaben der Stabilisierung. Das führt oft zu einer Tonuserhöhung in Muskelgruppen wie dem M. latissimus dorsi, die unter normalen Bedingungen nicht primär für die Haltung zuständig wären. Der instabile Rumpf versucht dabei, sich über eine vermehrte Spannung aus der Peripherie zu stabilisieren, was zu kompensatorischen Mitbewegungen und massiven Bewegungseinschränkungen führen kann.

Ein alltägliches Beispiel zur Veranschaulichung ist das erste Stehen auf Inline-Skates: Die unsichere sensorische Lageeinschätzung sowie fehlende antizipatorische Kontrolle (Feedforward) führen zu einer Tonuserhöhung im gesamten Körper. Bewegungen wirken steif, unkoordiniert und wenig ökonomisch. Erst durch wiederholte Erfahrung und sensorisches Feedback lernt das zentrale Nervensystem, die Haltung gezielter zu regulieren – die posturale Kontrolle verbessert sich.

Dieser Lernmechanismus lässt sich auch auf neurologisch beeinträchtigte Patientinnen und Patienten übertragen, etwa nach einem Schlaganfall. Bei Hemiparese fehlt häufig die differenzierte Aktivierung der Rumpfmuskulatur. Der Körper reagiert mit einem erhöhten Tonus in nicht dafür vorgesehenen Muskelgruppen, um das Gleichgewicht zu sichern. Dieser ständige Versuch, sich gegen die Schwerkraft zu behaupten, führt langfristig zu einem pathologisch erhöhten Muskeltonus und typischen Kompensationsmustern.


Wahrnehmungsdefizite: Die unterschätzte Ursache für Instabilität

Nach neurologischen Ereignissen – etwa einem Schlaganfall – zeigen viele Patientinnen und Patienten zudem eine gestörte Eigenwahrnehmung, beispielsweise im Bereich des Lagesinns. Diese sensomotorischen Defizite erschweren die gezielte Regulation des Muskeltonus, da die Rückmeldung über die eigene Körperposition im Raum fehlt oder verfälscht ist.

Gerade im Rumpfbereich, der eine zentrale Rolle in der posturalen Kontrolle spielt, fällt häufig eine unzureichende Aktivierung der haltungsstabilisierenden Muskulatur auf. In der Folge kommt es zu einer kompensatorischen Fixation durch phasische Muskeln, also Muskelgruppen, die eigentlich für Bewegung – nicht für Stabilisierung – vorgesehen sind. Diese Fixationsstrategien führen oft zu Bewegungseinschränkungen, erhöhtem Tonus und ineffizienter Motorik.

Um Patientinnen und Patienten zu einer gezielten, selektiven Bewegung zu befähigen, muss vor der Aktivitätsförderung zunächst auf Strukturebene gearbeitet werden. Ziel ist es, ein möglichst physiologisches Alignment herzustellen – also eine funktionelle Ausgangsstellung, die es dem Körper erlaubt, ökonomisch zu reagieren. Häufig ist dies zunächst nur passiv möglich, etwa durch Lagerung, Mobilisation oder gezielte Tonusregulation. Erst wenn diese Basis geschaffen ist, können aktive Bewegungsangebote sinnvoll und effektiv umgesetzt werden.


Therapieverlauf: Von passiver Mobilisation zur aktiven Kontrolle

Schritt 1 | Passive Tonusregulation durch Mobilisation

Der erste therapeutische Ansatz zielt auf die Tonusreduktion des M. latissimus dorsi ab, einem Muskel, der häufig kompensatorisch überaktiv ist. Die Patientin oder der Patient wird in Rückenlage positioniert, wobei Hüft- und Kniegelenke etwa 90° gebeugt sind. Aus dieser Ausgangsstellung wird die Hüfte weiter in Richtung Flexion und Rotation zur weniger betroffenen Seite mobilisiert. Wichtig ist dabei die Stabilität des oberen Rumpfes, die gezielt durch die Therapeutin oder den Therapeuten gesichert wird. Die Mobilisation erfolgt passiv, wobei der hyperton arbeitende Muskel in die gewünschte Bewegungsrichtung geführt wird. Ziel ist es, Spannung abzubauen und die Voraussetzungen für eine aktiv steuerbare Bewegung zu schaffen.

Schritt 2 | Selektive Aktivierung des unteren Rumpfs

Im Anschluss folgt die Anbahnung aktiver, selektiver Bewegungen im unteren Rumpfabschnitt. Dabei bleibt der obere Rumpf stabil, während der Patient eine gezielte Rotation im unteren Bereich ausführt. Um die ventrale Muskelkette zu aktivieren, kann der untere Rippenbogen taktil fazilitiert werden. In dieser Phase beginnt die therapeutische Arbeit auf Aktivitätsebene. Kräftigende Übungen wie Bridging-Varianten sind jetzt möglich – allerdings nur unter der Voraussetzung eines korrekten Alignments, um Kompensationen oder massensynergetische Bewegungsmuster zu vermeiden. Ziel ist eine differenzierte muskuläre Kontrolle anstelle globaler Spannungsmuster.

Schritt 3 | Training physiologischer Stellreaktionen

Im letzten Schritt wird die zuvor erarbeitete Selektivität genutzt, um physiologische Stellreaktionen des Rumpfes zu fördern. Eine zentrale Übung ist hier die aktive Lateralflexion zur stärker betroffenen Seite, um deren konzentrische Muskelaktivität zu stärken. Gleichzeitig wird der Schultergürtel stabilisiert, um die Bewegung im Rumpf differenziert ausführen zu können. Zur Unterstützung kann eine laterale Fazilitation auf Höhe des unteren Rippenbogens erfolgen. Ziel ist es, automatische Gleichgewichtsreaktionen zu verbessern und die posturale Kontrolle in alltagsnahen Situationen zu fördern.


Erfolgskontrolle: Was assoziierte Reaktionen über Fortschritt verraten

Ein wichtiges Kriterium zur Einschätzung des Therapieerfolgs ist die Beobachtung sogenannter assoziierter Reaktionen – also unwillkürlicher Mitbewegungen, die häufig im Rahmen erhöhter Muskelspannung auftreten. Besonders gut sichtbar sind diese zum Beispiel am Ellbogengelenk der oberen Extremität, das bei Belastung der betroffenen Seite oft in eine übermäßige Flexion geht.

Lassen diese assoziierten Reaktionen nach einer Behandlungseinheit deutlich nach, kann das als Hinweis auf eine verbesserte posturale Kontrolle und Rumpfstabilität gewertet werden. Der Patient oder die Patientin benötigt dann weniger kompensatorische muskuläre Fixation, da das zentrale Nervensystem offenbar wieder besser in der Lage ist, Haltungsaufgaben effizient zu regulieren – ein zentrales Therapieziel.


Ganzheitliche Therapieplanung: Wahrnehmung, Tonus und Funktion vereinen

Obwohl dieser therapeutische Ansatz den Fokus auf tonische Veränderungen und Rumpfstabilität legt, darf die Komplexität der posturalen Kontrolle nicht aus dem Blick geraten. Denn die Regulation des Gleichgewichts und der Körperhaltung beruht auf einem fein abgestimmten Zusammenspiel verschiedener afferenter Systeme – insbesondere des visuellen Systems, der Tiefensensibilität (Propriozeption), des vestibulären Apparats und der Exterozeption.

Für eine wirklich wirksame und zielgerichtete Therapie ist es daher unerlässlich, die individuellen Defizite in diesen Wahrnehmungsbereichen differenziert zu analysieren. Nur so lässt sich das primäre Problemfeld jeder Patientin und jedes Patienten erkennen – und eine entsprechend maßgeschneiderte, effektive Behandlungsstrategie entwickeln.

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